06. Kapitel

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MARSEILLE!«, rief ich aus und schlang meine Arme um den fast zwei Meter großen Mann.

Allem Anschein nach überrascht über meine stürmische Umarmung, versteifte er sich für einen Augenblick, ehe er die Geste erwiderte. Ich presste mein Gesicht an sein verschwitztes T-Shirt und kniff die Lider fest zusammen, bevor ich mich von ihm löste.
»Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin dich zu sehen!«, sagte ich und konnte nichts anderes tun als ihn anzustrahlen.

»Ich denke, du kannst verstehen, dass ich nicht das Gleiche behaupten kann.«, erwiderte er und zwang sich zu einem Lächeln, welches nicht seine braunen Augen erreichte.

Anstelle meine flachen Hand gegen meinen Kopf zu schlagen, biss ich mir auf meine spröde Unterlippe. Den Professor hätte ich ja fast vergessen!
»Es tut mir-«

Er unterbrach mich unerwartet, indem er nach meinem Arm griff und mich mit sich zog.

»Marseille?«, fragte ich und versuchte panisch mit ihm Schritt zu halten.

»Ich habe einen Flug gebucht. Ich sollte morgen nach Spanien zurückkehren, um mich dort mit dem Professor zutreffen. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass du auch noch einen Platz im Flieger bekommst...«, erläuterte der Mann, während er uns mit einer schwindelerregenden Sicherheit durch die Straßen führte.
»Und irgendwie müssen wir die Serben kontaktieren...«, murmelte er.

Wir stürmten in die Eingangshalle eines nicht geraden stattlichen Hotels, das sich allerdings in einem deutlich besseren Zustand als meines befand, und rannten unter den verwirrten Blicken der Leute, die in diesem Raum waren, die kleine Treppe hoch.
Als wir in seinem Zimmer angekommen waren ließ er mich wieder los. Aber er gönnte sich keine Verschnaufpause nach dem anstrengenden Sprint, welchen ich schmerzhaft in meiner Seite spürte, sondern griff nach dem Kabeltelefon, das auf einem kleinen Tisch bereitstand, und tippte eine Zahlenkombination ein.

Einen Moment herrschte Stille, in der nur mein laut polterndes Herz zu hören war. Unvermittelt begann er mit lauter Stimme und einem Akzent - soweit ich das beurteilen konnte - in den Hörer zu sprechen. Dabei wurde er immer aggressiver, bis er plötzlich wieder verstummte, auf den kleinen gelben Klebezettel starrte, auf den er eine Nummer geschrieben hatte, noch etwas unverständliches murmelte und schließlich auflegte.

Erwartungsvoll sah ich den Mann mit dem Schnurrbart an, er rührte sich jedoch nicht.

»Und?«, platzte es aus mir heraus.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen schaute er mich an. »Du hast einen Platz.«

Erleichtert atmete ich aus. Gott sei Dank!

€€€

Der Flug verlief ohne jegliche Komplikationen, dennoch konnte man Marseille ansehen, wie er sich immer mehr versteifte, je näher wir Spanien kamen.
Ich war mir sicher, dass er in seinem Kopf bereits schon mehrere Möglichkeiten durch gegangen war, wie wir die Serben kontaktieren und den Professor befreien könnten. Um ehrlich zu sein beunruhigte mich die Tatsache, dass auch der Mann nervös zu sein schien, sehr.

Der Kopf der Bande war schlau - mehr ein Genie - und hatte alles bis ins kleinste Detail geplant - selbst seine Entführung hatte er einkalkuliert. Er hatte es uns gut vorbereitet und jedem genau erklärt, was er zu tun hatte, jedoch war keiner darauf gefasst gewesen, dass er plötzlich nicht mehr für uns da sein würde.

Unruhig richtete ich meinen Blick aus dem Fenster des Busses, der uns zu ›den Gehilfen‹ bringen sollte. Da wir nicht unnötige Aufmerksamkeit erregen wollten, indem wir uns ein Taxi riefen, hatten wir uns kurzerhand in das nächste Gefährt gesetzt, dass an der Station gehalten hatte und in unsere Richtung fuhr.

Goldenes Blut | LCDPWo Geschichten leben. Entdecke jetzt