37 Lukas

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Ich war ein Arschloch.
Ich belog meinen besten Freund und schlief hinter seinem Rücken mit seiner Schwester. Und das schon lange nicht mehr wegen ihrer Bitte oder um ihr irgendwas beizubringen, sondern weil es mir Spaß machte und ich gerne mit ihr zusammen war.
Beinahe eine Woche war es her, seit sie mich nach den Narben auf meinem Rücken gefragt hatte und seitdem hatte mich der Gedanke daran nicht mehr losgelassen. Jahrelang hatte ich kaum einen Gedanken daran verschwendet.
Ich fragte mich, ob ich Josie in mein Geheimnis einweihen sollte, wusste jedoch nicht, wie ich so ein Gespräch anfangen sollte oder wie sie reagieren würde.
Was sollte ich auch sagen?
Hey, ich hab meinen Vater wegen Steuerhinterziehung in den Knast gebracht und dich die ganze Zeit darüber belogen, wieso ich wieder hier bin?
Aber vielen Dank, dass du mich bei dir wohnen lässt, obwohl ich selbst Schuld daran bin, dass meine Familie ihr Vermögen verloren hat.
Nein, so würde es wohl nicht funktionieren.
Seufzend stellte ich den Motor aus und verfluchte mich selbst dafür, dass ich schon wieder zu meiner Mom gefahren war.
Nach dem letzten Besuch hätte ich auf ihre Bitte herzukommen gar nicht reagieren sollen. Und dennoch parkte ich gerade meinen Wagen eine Straße weiter und stieg aus. Hoffentlich würde mein Bruder nicht da sein, darauf hatte ich heute wirklich keine Lust.
Auf dem Weg zur Haustür rauchte ich, dann klingelte ich und stieg die Treppenstufen zu ihrer Wohnung hoch.
Mir graute es davor, die Wohnung erneut zu betreten, hatte ich mir doch beim letzten Besuch geschworen nie wieder zu kommen. Doch ich konnte meine Mom schlecht in meine Wohnung – Josies Wohnung – einladen.
„Come in!" Mom stand im Flur und umarmte mich, wie das letzte Mal auch, zur Begrüßung.
„We need to talk."
„Worüber?", fragte ich und trat in die kleine Küche.
„Deinen Bruder." Sie seufzte. „Setz dich erstmal. Gut schaust du aus. Möchtest du einen Kaffee?"
Ich nickte und sah zu, wie sie ihn mit der Pad-Maschine zubereitete. Als zwei Kaffee fertig waren, setzte sie sich mir gegenüber hin.
„Ich gehe zurück nach Conneticut", sagte sie dann.
„Ich weiß. Hast du gesagt."
„Ich werde ausgewiesen."
„Was?!"
„Ich bin keine deutsche Staatsbürgerin und nach der Sache mit ... deinem Dad ... Na ja. Ich wollte sowieso zurück."
„Wir können das klären, Mom", sagte ich. „Wir finden einen Anwalt für dich. Ich frage in meiner Kanzlei, ob sie jemanden kennen. Das können wir verhindern, wir ..."
„Nein, Honey. Ich möchte zurück. Zu Grandma und Tiffy." Tiffy war meine Tante, die ich während meines Auslandsaufenthaltes oft besucht hatte. „Ich kann nur deinen Bruder nicht mitnehmen."
Sie seufzte. „Er muss hierbleiben."
„Wieso?", fragte ich. „Wenn er nicht mit will, zwing ihn doch einfach? Er hat kein Geld, keine Wohnung ... Er hat doch einen amerikanischen Pass, dass dürfte doch kein Problem werden, oder?"
„Seine Freundin ist schwanger." Sie seufzte und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Fuck", stieß ich aus. „Er hat doch nicht mal eine Ausbildung!"
„Romina schon", sagte sie. „Sie ist ein liebes Mädchen. Sie bekommt das hin. Ihre Eltern wollen die beiden unterstützen. Aber ... Wenn ich nicht hier bin, Lukas, musst du ihm helfen." Sei seufzte erneut. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Das mit deinem Vater hat ihn so aus der Bahn geworfen."
Ich verzog den Mund. „Mum, ganz ehrlich – Robin hasst mich! Was soll ich schon ausrichten? Wie soll ich ihm helfen?"
„Du musst!" Sie stand auf und raufte sich durch die Haare.
„Du hast uns das hier schließlich eingebrockt", sagte sie resigniert.
Ich schnappte nach Luft. Das konnte nicht sein.
Meine Mom konnte nicht darüber Bescheid wissen.
Sie drehte sich zu mir und sah mich eindringlich an. „Hab ich Recht?"
„Mom", sagte ich geschockt. „Ich ..."
„Hab ich Recht, Lukas?", fragte sie erneut. „Du hast ihn angezeigt, nicht wahr? Sag mir die Wahrheit!"
Ich schloss die Augen und hatte das Gefühl zu fallen.
Immer tiefer, immer weiter.
Meine Mom wusste es und sie würde mich dafür verachten.
„Warum?", fragte sie. „Warum hast du das getan, Lukas?"
Ich sprang auf. „Du weißt warum!", brüllte ich sie an. „Du weißt genau wieso!"
Ich schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wieso hast du weggesehen, Mom? Wieso hast du nie was gesagt? Wieso hast du ihn einfach machen lassen? Wieso war er dir wichtiger?"
Ich stieß den Tisch mit beiden Hände um. Es krachte, als das Holz die Fliesen traf und meine Mom sprang erschrocken zurück. „Was hätte ich denn tun sollen?", fragte sie leise schluchzend. „Was, Lukas? Was hätte ich tun sollen?"
Sie trat auf mich zu. Mein Körper zitterte und eisern versuchte ich mich zu kontrollieren, keine Panikattacke zu bekommen.
Eins... zwei... drei...
„Dazwischen gehen?", fragte sie leise. „Dann hätte er mich umgebracht."
Vier... fünf... sechs...
„Ich war ein Kind", flüsterte ich leise. „Mom, ich war ein Kind. Ein Kind, verstehst du! Er hat mich beinahe tot geprügelt!"
Sieben...Acht...Neun...
Sie zog mich in ihre Arme und ich vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter, während ich aufschluchzte.
„Ich weiß, mein Schatz", flüsterte sie. „Es tut mir leid. Es ist alles meine Schuld. Wenn du nicht aussehen würdest, wie er ... Dann ..."
„Wie wer, Mom?", fragte ich leise. „Nicht aussehen, wie wer?"
Und dann sagte sie mir, was ich mein ganzes Leben geahnt und mich nie getraut hatte zu fragen.
„Wie dein Vater, Kind. Dein leiblicher Vater."

Ich drehte den Joint zwischen meinen Fingern und sah Jan mit glasigen Augen an. In meinem Inneren tobte es. Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich es geschafft hatte aus der Wohnung meiner Mutter zu stürmen und zu Jan zu fahren. Ich hatte ihn um Gras gebeten und er hatte es mir ohne zu Zögern gegeben.
Das allein sagte mir, dass ich genauso beschissen aussah, wie ich mich fühlte.
Ich hatte seit Jahren nicht mehr geweint. Ich hatte seit Jahren keine Panikattacke mehr gehabt.
Und jetzt war beides am selben Tag passiert, in der Küche meiner Mutter, die mich festgehalten hatte, wie ein Kleinkind. „Sagst du mir jetzt endlich, was passiert ist?", fragte mein bester Freund beunruhigt. „Nein."
„Alter, du kannst nicht hier auftauchen, dich zudröhnen und nicht mit mir reden! Ich sehe, dass irgendwas passiert ist! Du hast geweint und bist blass wie eine Leiche."
Ich schloss die Augen und versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen.
„Ich will nicht reden", sagte ich leise. „Bitte nicht, Jan."
„Doch." Er sah mich eindringlich an. „Du musst darüber reden."
„Long Story short", sagte ich. „Mein Dad ist gar nicht mein Dad."
Jan schnappte nach Luft und ich explodierte. „Kannst du dir das vorstellen? Der Mann, der mir die Seele aus dem Leib geprügelt hat, ist nicht einmal mein Vater!" Ich lachte hysterisch auf. „Sie stand daneben und hat zugesehen, wie er mich beinahe umgebracht hat. Irgendein Mann. Nicht mein Vater. Er hat bei jedem Schlag gelacht, habe ich dir das schon mal erzählt? Bei. Jedem. Einzelnen. Schlag. Er hat mich ausgelacht, weil ich zu schwach war, um mich zu wehren. Daddy, hab ich gefleht. Daddy, bitte. Trotzdem hat er den Gürtel gehoben. Daddy, bitte tu das nicht! UND ER IST NICHT EINMAL MEIN VATER!" Das Lachen ging in ein hysterisches Schluchzen über und Jan strich hilflos über meinen Rücken, während ich weinte und mich fühlte, wie ein kleines Mädchen.
Nur Babys weinen.
Und kleine Mädchen, hörte ich die Stimme meines Vaters oder Stiefvaters, in meinem Kopf.
Du bist doch kein Baby oder ein Mädchen, Lukas. Also steh auf und nimm es wie ein Mann.

Es dauerte, bis ich mich beruhigte. Jan hatte begonnen mir zu erzählen, wie er Ellie kennen gelernt hatte, weil er wusste, dass Ablenkung das Beste bei einer Panikattacke war.
Er hatte sie schließlich oft genug mit mir mitgemacht.
Ich drückte den Joint im Aschenbecher aus und fuhr mir mit beiden Händen durch das Gesicht.
„Gehts wieder?", fragte Jan mit sanfter Stimme.
„Ich denke schon." Ich seufzte. „Tut mir leid, ich ..."
„Du musst dich nicht entschuldigen. Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst. Damals und heute."
„Ich wollte nicht nach Hause. Nicht zu Josie."
„Es ist auch besser, wenn sie davon gar nichts mitbekommt", sagte er zustimmend. Ich nickte. Sie wusste von alldem nichts. Und ich wusste nicht, wie ich es verkraften würde, wenn ich ihr alles, wirklich alles, erzählen würde.

Ich knallte die Wohnungstür hinter mir zu. Jan hatte nach ein paar Bier und noch einem Joint nach Hause gefahren, als ich mir sicher war, mich wieder unter Kontrolle zu haben.
Doch kaum stieg ich aus seinem Auto aus, packte mich erneut die ganze Wut und der ganze Schmerz.
Ich wollte zu Josie.
Sie anfassen, sie fühlen.
Mich vergewissern, dass sich nicht alles in meinem Leben geändert hatte.
Mein Vater war nicht mein Vater.
Die Erkenntnis kam schleichend.
Langsam eröffnete sich mir, was das bedeutete.
Für mich, für mein Leben. Meine Mutter hatte mich mein ganzes Leben belogen.
Josie saß im Wohnzimmer auf der Couch und sah mich wortlos an. Die Freude in ihrem Gesicht ließ mein Herz hüpfen, doch dann verwandelte sie sich in Sorge.
„Hey", sagte sie. „Was-?"
Wortlos ging ich auf sie und presste meine Lippen auf ihre.
„Ich brauche dich", keuchte ich und schob die Hände unter ihr T-Shirt. Als ich ihre Brustwarzen berührte, keuchte sie leise auf. „Was ist passiert?", fragte sie an meinen Lippen.
Ich schüttelte den Kopf und sie schien zu verstehen, dass ich gerade nicht reden wollte.
Umso heftiger erwiderte sie mein Kuss. Ich hob sie hoch und sie schlang die Beine um meine Hüften, während ich sie in mein Schlafzimmer trug.
Ich zog mich aus, rollte mir das Kondom über und als ich mich zu ihr auf das Bett legte, war sie bereits ausgezogen. Ich ließ meine Hand zwischen ihre Beine gleiten und stellte fest, dass sie bereit für mich war.
Ich brachte uns in die richtige Position und drang in sie ein.
Ihr Geruch und ihre Stimme benebelten meine Sinne, kämpften gegen den Schmerz und die Drogen an.
Ich fühlte mich, wie ein Ertrinkender, der gegen den Strom schwimmt, bereit alles zu opfern, wenn er nur überleben würde. Ich verlor den Kamp gegen mich selbst.
Ihr Gesicht verschwamm vor meinen Augen und das Einzige, was ich noch wahrnahm, war ihre Haut an meiner und meine eigene Ektase.
Tief und schnell drang ich ihn sie, immer und immer wieder, versuchte, den Schmerz zu verdrängen und scheiterte.

Verlieb dich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt