09 Josie

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Die nächsten zwei Tage hörte ich weder von Max, noch von Jan etwas. Das Gefühl, meinen Bruder enttäuscht zu haben, und das Wissen, wie mein Freund über mich dachte, lastete schwer auf mir. Den Tag nachdem ich bei Jan war, verbrachte ich im Bett, weinte, bis keine Tränen mehr übrig waren und den zweiten verbrachte ich damit, wie wild meine Wohnung zu putzen und aufzuräumen. Jetzt wo alles an seinem Platz war und jede Ecke glänzte, hatte ich zumindest das Gefühl, dass ich mein Leben ein Stückchen unter Kontrolle hatte. Doch ich musste etwas an dieser Situation ändern. So konnte es nicht weitergehen. Ich schrieb Lia, ob sie Zeit hätte, sich mit mir zu treffen und meine beste Freundin antwortete prompt. Sie schlug vor, dass wir uns in der Stadt treffen würden, denn sie brauchte unbedingt eine neue Jeans und hatte sowieso vor in die Innenstadt zu fahren. Nach einer ausgiebigen Dusche trug ich Make-Up auf und zog mich an. Sofort fühlte ich mich besser. Ich parkte das Auto auf einem Park-and-Ride Parkplatz und nahm die S-Bahn in die Stadt. Lia und ich trafen uns in einem kleinen Café. Sie sah umwerfend aus, so wie immer.
„Ich hab dir schon einen Latte Macchiato bestellt", informierte sie mich, als ich mich zu ihr an den Tisch setzte.
„Wow du siehst ... nicht so gut aus. So schlimm?"
Selbstverständlich hatte ich sie schon über die ganze Situation in Kenntnis gesetzt. Ich zuckte mit den Schultern.
„Es ist ... schwierig", gab ich zu. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Einen enttäusche ich doch immer."
Lia sah mich nachdenklich an. „Darf ich ganz ehrlich sein, Josie?", fragte sie.
„Sicher." Ich seufzte. „Ich denke, du solltest Lukas sagen, dass er bei dir wohnen kann. Und Max endlich abschießen. Dieser Mistkerl zieht dich doch nur noch runter. Immer ist irgendwas, was ihm nicht passt. Du bist so unglücklich in letzter Zeit. Ich kann das einfach nicht mehr mit ansehen."
„Ich kann nicht", erwiderte ich resigniert. „Was soll ich machen? Wenn ich Max ... abschieße ... und dann?"
„Suchst du dir irgendeinen Kerl." Sie zuckte mit den Schultern. „Du brauchst jemanden, der dir zeigt, dass du mehr bist, als jemand auf dem jeder herumtrampeln kann. Am liebsten würde ich Max mal so richtig meine Meinung geigen! Unglaublich, was er gesagt hat!"
„Er war wütend", verteidigte ich ihn. „Ich wäre glaube ich auch wütend, wenn er mir sagen würde, dass er mit einem Mädchen zusammenzieht ..."
„Na und?", gab Lia zurück. „Auch wenn, er wütend war, hat er noch lange kein Recht sowas zu dir zu sagen! Du bist seine Freundin, nicht seine Nutte!"
Ein paar Köpfe drehten sich zu uns um. „Leiser, Lia", murmelte ich peinlich berührt."
„Was denn?! Ist doch wahr!"
Die Kellnerin stellte zwei Latte Macchiato auf unserem Tisch ab und musterte uns dabei kurz.
„Wollt ihr auch was essen?", fragte sie. Ich lehnte dankend ab, Lia bestellte sich ein überbackenes Toast.
„Wenn du dich fragst", sagte sie, als die Kellnerin ging. „Was würdest du wollen? Abgesehen von Max oder Jan? Würdest du Lukas bei dir einziehen lassen?"
Ich überlegte kurz. Die Matratze auf Jans Fußboden kam mir in den Sinn. Der Ausdruck in Lukas Augen, als ich davon erfahren hatte, dass seine Eltern sich getrennt hatten. Er hatte sein ganzes Leben in Amerika aufgeben müssen. Er musste zum 2. Mal ganz neu anfangen. allein, scheinbar ohne jede Unterstützung seiner Familie. Ich wusste nicht, was dort vorgefallen war, aber wenn Lukas bei Jan auf dem Fußboden schlief, schien irgendwas nicht in Ordnung zu sein, denn sonst hätte er bei seiner Mutter oder seinem Vater geschlafen. Dazu kam, dass er scheinbar Geldprobleme hatte. Sonst hätte er sich eine Wohnung nehmen können. Klar, die Wohnungen waren teuer, aber er war ja nicht von einem Tag auf den anderen aus Amerika abgereist, oder? Jan hätte die Wohnungen für ihn besichtigen können. Oder meinetwegen auch ich. Wir hätten ihm geholfen. Also, würde ich Lukas bei mir einziehen lassen, wenn ich es allein entscheiden würde?
„Ja", antwortete ich leise. Lia atmete tief durch.
„Dann mach es. Lass ihn bei dir einziehen. Du musst Max auch mal zeigen, dass er nicht alle Entscheidungen in deinem Leben trifft."
Ich wusste, dass Lia Recht hatte. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob ich den Mut dazu besaß, Max derart vor den Kopf zu stoßen. Seine Reaktion auf meine Überlegung war schon nicht gut gewesen und ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie er reagieren würde, wenn ich Lukas einfach zusagen würde, ohne ihn vorher darüber zu informieren.
„Hau einmal drauf", sagte Lia. „Zeig einmal, wer du bist."
Dafür müsste ich erst herausfinden, wer ich war. Oder, wer ich sein wollte.

Es ging wahnsinnig schnell. Am Abend desselben Tages, an dem ich Jan anrief, zog Lukas bei mir ein. Und das alles, ohne, dass ich Max zumindest darüber informiert hätte. Was ich dringend, sehr dringend, nachholen sollte. Selbstverständlich würde ich es nicht vor ihm verheimlichen können. Spätestens, wenn er das nächste Mal zu mir kommen würde, würde er Lukas kennen lernen. Und mit mir vermutlich nie wieder sprechen wollen. Ich atmete tief durch und legte den Kopf auf das Lenkrad. Eigentlich war die Sache klar. Max hatte gesagt, dass er sich von mir trennen würde, wenn ich Lukas bei mir einziehen lassen sollte. Und das hatte ich getan. Während ich im Auto vor Max Wohnung saß, packte Lukas in meiner Wohnung seine Kisten aus. Vermutlich war er sogar bereits fertig, denn wahrlich viel hatte er nicht mitgebracht. Ich öffnete die Fahrertür, stieg aus und zündete mir eine Zigarette an. Die zwei Minuten würde ich mir noch geben, um mir zu überlegen, wie ich Max gegenüber treten wollte. Was ich sagen würde. Wie ich versuchen wollte, ihm zu erklären, warum ich Lukas bei mir wohnen ließ.
„Josefine!" Noah kam auf mich zu. „Hi! Wartest du auf Max?" Ich schüttelte den Kopf. „Ne, ich wollte eigentlich zu ihm hoch."
„Dann komm, ich nehme dich mit hoch."
Ich nickte und trat die Zigarette auf dem Boden aus. Was für eine Verschwendung. Ich folgte Noah durch das Treppenhaus und blieb hinter ihm, als er die Wohnungstür aufschloss. Tim kam uns entgegen.
„Josefine?", fragte er verwundert. „Was machst du denn hier?"
Irritiert sah er zwischen Noah und mir hin und her. „Ich wollte zu Max. Ist er da? Schläft er schon?", fragte ich, schon auf halbem Weg zu seinem Zimmer.
„Ähm ...", murmelte Tim verlegen. „Nein, er ist nicht da."
„Wo ist er denn?", fragte ich verwirrt und kniff die Augen zusammen. Es war kurz vor zehn am Abend.
„Dann warte ich hier."
„Das ist keine gute Idee ...", sagte Tim ausweichend und sah nervös in Richtung Max Zimmer.
Ich hörte, wie Noah hinter mir resigniert seufzte. „Vielleicht rufst du ihn besser an, wenn du zuhause bist."
Noah legte eine Hand auf meine Schulter und drückte mich sanft Richtung Haustür.
„Wieso nicht?", fragte ich verwirrt. „Wieso ist es keine gute Idee?", fragte ich Tim und entwand mich aus Noahs Griff. Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Körper breit. Mein Hals war wie zugeschnürt.
„Hör mal, Josefine, keine Ahnung wie ich das sagen soll, ab-" Ein Geräusch ließ mich aufhorchen und ich unterbrach Tim: „Das kam doch aus Max Zimmer, oder? Ist er doch da?" Ich ließ Tim keine Zeit zu antworten und lief zur Zimmertür.
„Josefine ...", rief Noah resigniert und gleichzeitig stieß ich die Tür auf.
„Huh", entfuhr es mir und wie angewurzelt blieb ich im Türrahmen stehen. Später konnte ich mir nicht erklären, wie das Einzige, was in dem Moment über meine Lippen kam ein „Huh" war. Max war sehr wohl zu Hause, wie es aussah. Er war zu Hause und beschäftigt.
Beschäftigt damit, Olivia Paulsen von hinten zu nehmen.
Sie starrte zur Tür, versteifte sich einen Augenblick, ehe sie realisierte, dass ich tatsächlich vor ihr stand.
Max stieß einen erschreckten Laut aus und wir musterten uns für ein paar Sekunden, beide unfähig zu reagieren.
Doch es dauerte bloß eine Schreckenssekunde, bis ich blindlings rückwärts stolperte.
Er rief meinen Namen. Das Blut rauschte in meinen Ohren und wie betäubt rannte ich an Noah und Tim vorbei ins Treppenhaus. „Josefine! Warte! Fuck! Warte!" Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass nicht Max mir hinterherlief, sondern Noah. Ich blieb außer Atem stehen.Noah kam auf mich zu.
„Es tut mir so leid!"
Ich stieß einen leisen, wimmernden Laut aus. „Es tut dir leid?"
„Oh Gott, fuck", fluchte Noah. „Das hätte nicht passieren sollen. Ich hätte dich da nicht reingehen lassen, sollen, ich-"
„Wusstet ihr davon?", fragte ich wütend. Noah sah resigniert zu Boden.
„Ich ... Ja. Es tut mir so leid, Josefine. Kann ich irgendwas tun? Soll ich dich nach Hause fahren?"
„Ich fahr selbst. Danke ... für gar nichts! Wieso habt ihr nichts gesagt? Wie lange geht das schon? Oh mein Gott, ich bin so dumm, dass ... "
„Josefine, ich-"
„Geh wieder rein, Noah!" Ich zitterte. Der Autoschlüssel glitt mir durch die Finger und fiel zu Boden.
Noah bückte sich und hob ihn eilig auf. „Josie, lass mich dich fahren."
„Ich ... Ich komm klar!" Mit zitternden Händen schloss ich das Auto auf. Ich spürte das Pochen meines Herzens bis zum Hals und hatte plötzlich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Noah warf mir einen letzten mitleidigen Blick zu, dann drehte er sich um. Ich wusste, dass er Lia anrufen würde. Doch mit ihr wollte ich gerade nicht reden, da ich mir nur zu gut vorstellen konnte, was sie sagen würde. Ich stieg in den Wagen und atmete tief durch den Mund aus. Was sollte ich jetzt tun? Ich musste hier weg, ehe Max herunter kommen würde. Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Ich zog es hervor und blinzelte, um etwas erkennen zu können. Max rief mich an. Ich lehnte den Anruf ab.

Verlieb dich nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt