Die Handlungskurve eines Dramas sollte den meisten bekannt sein. Die Handlung steigt mit der Hoffnung bis ungefähr zur Mitte und dann...fällt alles auf einmal wieder ab. Wir haben uns in dem Riesenrad bis zur Spitze empor gehoben, jeder mit einem Lächeln auf den Lippen und positiven Erwartungen. Aber in der Sekunde in der die Gondel an Höhe verliert, frieren Dameon und Simon zeitgleich die Gesichter ein. Verwirrt sehe ich zu Alex doch er versteht die Situation wohl genauso wenig wie ich. Mein Herz setzt einen Schlag aus und wie in Zeitlupe drehe ich den Kopf in die Richtung in die auch die Jungs sehen. Doch plötzlich und ohne Vorwarnung packen die beiden uns und zerren uns in den Fußraum. Ich schlage mir das Knie hart auf doch Dameon hat den Arm um mich gedrückt und hält mich unten bevor ich irgendwas tun kann. Der Schmerz der mich normalerweise zum aufzischen bringen würde bleibt aus. Adrenalin betäubt alle meine Sinne. Simon kniet als einziger am Fenster und sieht knapp darüber hinaus.
Ich schaffe es nicht etwas zu sagen, Panik überkommt mich komplett und meine Hände zittern. Was auch immer passiert, es ist nicht gut. Wird es doch jetzt schon unser Ende sein? Werden wir jetzt sterben? Ist da eine Horde Schmetterlinge oder schlimmeres?"Mia..."
Dameons Stimme ist so leise dass ich zuerst glaube er würde nur in meinen Gedanken sprechen. Sein Gesicht ist sehr nah an meinem und er sieht mir in die Augen.
"Halte dir die Ohren-"
Schüsse knallen durch die Stille und zerreißen diese schmerzlich. Die Angst treibt mir Tränen in die Augen und ich Kralle mich in das Cover von meinem Gegenüber. Er hält mich an sich gedrückt und versucht mir die Hände über die Ohren zu halten. Vergeblich. Den Schüssen folgen Schreie. Die Schreie der Gruppe, die am Tor Wache schieben wollten.
Alles passiert viel zu schnell. Es soll aufhören. Es soll alles aufhören! Mit einer Hand auf dem Mund halte ich mich selbst davon ab zu schreien. Was auch immer da unten passiert, die Gondel schiebt uns regelrecht mit hinein und wir sind hilflos ausgeliefert.
Ich fühle mich wie ein Masttier auf dem Weg zum Schlächter. Du steuerst direkt auf dein Verderben zu, es war von Anfang an deine Bestimmung und du hattest keine Ahnung. Laut dem Präferenzutilitarismus ist es gerechtfertigt Tiere zu töten, da sie kein zukunftsgerichtetes Denken haben. Sie leben im Hier und Jetzt. Wenn wir ihre Präferenz im Moment des sicheren Todes betrachten wäre die nächste gerechtfertigte Lösung, den Tod schmerzfrei zu gestalten. Wird da unten bei uns ebenso viel Gnade gezeigt? Immerhin ist es aufgrund unserer Präferenzen verboten, Menschen zu töten. Da wir es vorziehen zu leben. Ach verdammt was denke ich? Wen interessiert das?! Es herrscht Anarchie. Wer oder was da unten auf uns lauert wird sich nicht nach irgendeinem philosophischen Kalkül richten. Sie haben doch bereits geschossen! Wobei es mir kurz Hoffnung gebracht hat nur darüber nachzudenken. Obwohl das eher die Wirkung der Ablenkung ist."Verteilt euch! Da sind sicher noch mehr! Nehmt alles was ihr findet mit."
Diese Stimme ist mir fremd. Sie ist rau, kraftvoll und treibt mir Gänsehaut über die Arme.
"Andere Leute?"
Frage ich mit zitternder Stimme.
"Andere böse Leute."
Erwidert Simon und Dameon hält mich umso fester, damit ich nicht auf dumme Ideen komme.
"Was siehst du, Simon?"
Fragt er vorsichtig während er jedem von uns unsere Maske reicht.
"Sie sind nur zu dritt aber alle voll bewaffnet. Sie tragen Masken mit Schmetterlingsflügeln an den Seiten."
Mein erster Gedanke ist es, dass die Viren jetzt auch Menschen als Wirte befallen können aber dann bräuchten sie doch keine Masken. Allerdings bin ich an einem Punkt angekommen an dem alles irgendwie genauso logisch wie sinnlos zu sein scheint.
"Vergesst das, es sind mehr als drei."
Fügt mein bester Freund kurze Zeit später hinzu. Höre ich da etwa Verzweiflung in seiner Stimme?
Meine nächste Frage schmerzt noch mehr als mein Knie es eigentlich sollte.
"Haben sie unsere Leute erschossen?"
Simon seufzt und das ist mir Antwort genug. Meine Finger verkrampfen erneut in dem weichen Stoff von Dameons Cover aber er lässt mich einfach machen. Seine Gedanken scheinen auch nicht bei mir zu sein."Ich kann niemanden von unseren Leuten sehen, sie werden sich wohl versteckt haben. Hoffen wir dass sie keiner findet. Aber Dameon, wie läuft das mit der Gondel wenn sie unten ankommt?"
"Für den Moment sind wir sicher.", flüstert er.
"Man muss die Tür manuell öffnen und wenn das nicht geschieht, fährt das Riesenrad noch zwei Runden."
Erleichtert atme ich einmal ein und wieder aus. Da das Riesenrad in Bewegung ist wäre es nur logisch, dass jemand sich hier versteckt aber diese Tatsache ignoriere ich. Wir sind sicher. Ich glaube daran. Dameons Arme sind warm und trotz des starken Griffes tut er mir nicht weh. Langsam lässt allerdings auch die Betäubung durch den Adrenalinkick nach und mehr und mehr spüre ich den Schmerz im Bein. Er ist nicht stark aber sehr unangenehm. Auch Simon duckt sich jetzt und sieht zu Dameon und mir.
"Wir sind gleich ganz unten, keiner bewegt sich."Auf einmal erscheint mir das sanfte Schaukeln der Gondeln und die Drehung des Rades generell nicht mehr als entspannend sondern quälend, bedrohlich langsam. Erneut schallt die laute Stimme des Fremden quer durch den Park.
"Die hier sind unbewaffnet! Nicht schießen! Fesseln und mitnehmen. Ich hab keinen Bock weiter Katz und Maus zu spielen. Wenn hier noch welche sind dann sollen die Viren sie holen. Aber über die neuen Waffen wir Ronti sich sicher freuen."
Ich höre keine anderen Stimmen aber der Kerl gibt offensichtlich Anweisungen. Das macht es mir unmöglich eine ungefähre Anzahl von Gegnern auszumachen. In jedem Fall sind wir unterlegen und jetzt haben wir mindestens Acht Mitglieder verloren. So viele Verluste in so kurzer Zeit. Und wir können nichtmal gebürtig Abschied nehmen oder den Toten gedenken. Das konnte ich bei Terra auch nicht.
Ein Schatten schwebt kurz über die Sitze der Gondel hinweg aber näher kommt uns keiner.
Erst nach zwei weiteren Runden, in denen keiner von uns ein Wort gesagt oder einen Muskeln bewegt hat, kommen wir endgültig zum Stillstand. Doch trotzdem halten wir weiterhin ruhig, bis irgendwann Simon langsam, Zentimeter für Zentimeter, den Kopf hebt und aus dem Fenster sieht. Seine Schultern entspannen sich und das ist auch für Dameon das Zeichen, von mir abzulassen. Ohne zu zögern zieht er sich etwas mehr zurück als nötig und streckt den Rücken durch. Es ist stickig geworden und riecht viel stärker nach Mann als mir lieb wäre. Aber irgendjemand trägt eindeutig Parfüm.
"Ich sehe niemanden mehr aber bleibt vorsichtig. Sie haben nur auf bewaffnete Leute geschossen also halte deine Waffe verborgen, Mia. Oder gib sie besser mir."
"Damit sie auf dich schießen, Simon? Denkst du ich bin bescheuert?"
Fauche ich ihn an und schiebe die Pistole demonstrativ weiter in die Halterung. Er schnaubt aber protestiert nicht weiter. Tatsächlich spiele ich mit dem Gedanken, die Waffe einfach hier zu lassen aber im Notfall will ich wenigstens sie als Schutz haben. Genauso kann sie mir zum Verhängnis werden, das weiß ich, und doch wäre es schmerzlicher mich von ihr zu trennen.Die Gondel quietscht zwar leise während wir sie verlassen aber davon abgesehen ist es wieder totenstill.
"Ich komme mir vor wie auf dem Präsentierteller."
Murmelt Alex unruhig und sieht sich immer wieder um. Tatsächlich ist der Platz um das Riesenrad wie eine Lichtung im Wald.
"Wie finden wir jetzt überhaupt die anderen?"
"Wir haben doch vereinbart dass bei auftretenden Problemen alle zum Eingang kommen sollen. Mir wäre es überall lieber als dort aber es lässt sich nicht ändern."
Antwortet Simon leise und setzt sich auch schon in Bewegung. Seine Körpersprache verrät mehr als er selbst, die wiederholte Angst vor dem Tod hat keinen von uns kalt gelassen.
Jetzt wo unsere Lampen aus sind, ist es einerseits schwer sich zu orientieren aber andererseits fühle ich mich etwas geborgener als zuvor. Wir sind wieder allein und die Dunkelheit legt sich wie ein schützender Schleier um unsere Körper.An diesem Punkt kann man sich die bereits erwähnte Handlungskurve erneut vor Augen führen, denn im nächsten Moment knallt ein Schuss durch das Schweigen und Simon bricht zusammen.
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Covered - in der Dunkelheit
Teen FictionEin paar Monate ist es nun her. Wie lange genau kann keiner sagen, weil die Sonne schon seit Jahrzehnten nicht mehr von allein scheint. Die letzte funktionierende Uhr, eine große Atomuhr, steht in einer Stadt weit weg von hier. Sie ist es, die unser...