Gedankenlesen. Eine Eigenschaft, die viele Menschen gern hätten. Wie eine Superkraft. Aber wenn man mal genauer über die Folgen nachdenkt, ist das Lesen fremder Gedanken eher gruselig und ein ungeheurer Eingriff in die Privatsphäre. Man würde seine eigenen auch niemals freiwillig unter Beobachtung stellen lassen. Dass der Wunsch, diese Macht zu besitzen trotzdem besteht ist für mich ein Zeichen, dass es der Menschheit eindeutig an tiefgründigen Überlegungen mangelt. Ist es auf den ersten Blick cool - dann wird es so hingenommen. Ebenso wenn man die Lust oder Zeit nicht hat, sich genauer damit zu befassen. Was genau bei Terra der Fall ist, ist mir nicht ganz klar. Mein Verhalten, meine Ablenkungen und meine zurückgezogene Art haben sie nie sonderlich gestört. Auch auf den ersten Blick gut für mich, da ich dieses Verhalten selbst genieße und nicht als problematisch erachte aber würde ein psychisch verletzter Mensch sich nicht ähnlich verhalten? Ich gebe zu, dass ich mich manchmal bewusst so verhalte, als ginge es mir nicht gut. Manchmal brauche ich nun mal auch Aufmerksamkeit oder bin interessiert daran, wie meine beste Freundin das wohl aufnehmen und darauf reagieren wird. Fazit - gar nicht. Aber keine Erkenntnis ist mehr oder weniger auch eine Erkenntnis. Ich habe kein Problem damit. Ihre sorglose und lebensfrohe Art haben mir schon oft aus schlechten Zeiten geholfen und, zu ihrer Verteidigung, sie hat mich oft nach meinen Gedanken und Gefühlen gefragt.
Mittlerweile hat sie aufgegeben, weil ich den Fragen fast immer ausgewichen bin. Sollte ich mich selbst einschätzen würde ich sagen, ich bin das genaue Gegenteil von einer Person, die man lesen kann wie ein offenes Buch. Man kann nicht alles verdrängen oder mit sich selbst klären, das wäre auch ein ziemlich einsames und irgendwie erbärmliches Leben, aber ich werde besser in der Einschätzung zwischen wichtigen Gefühlen und denen, die aus einem schlechten Moment heraus entsprungen sind.
Heute schiebe ich es auf die Aufregung, also nichts was eine Diskussion wert wäre. Zu meinem Vor- und Nachteil liegt Terra's Fokus jetzt nicht mehr bei mir sondern darauf, dass Simon sie so mit den Bananen genervt hat, dass sie einfach aus Prinzip keine mitgebracht hat. Ein Vortrag, auf den ich gut hätte verzichten können. Manchmal sind die beiden ein Herz und eine Seele aber meistens ärgert sie Simon nur während er versucht sich auf irgendwas zu konzentrieren. An einer Stelle von Terra's Erzählung werde ich nun doch hellhörig.
"...wir hätten ja schon welche mitbringen können aber immer, und frag nicht warum, sitzt ein Großteil der Schmetterlinge am Bananen-Regal. Das sind aber auch so komische importierte vom Arsch der Welt. Wer weiß, was denen da so gefällt."
Haben sie vielleicht etwas an sich, was die Aufmerksamkeit der SiVi auf sie zieht? Ernähren sie sich davon oder gefällt ihnen einfach die Farbe? Ich äußere mich dazu nicht, eine falsche Vermutung kann schwerwiegende Folgen mit sich bringen. Trotzdem behalte ich es im Hinterkopf, vielleicht bin ich auch irgendwann mal mit Obstbesorgungen an der Reihe und kann dann meine Thesen bestätigen oder widerlegen. Hoffentlich ohne mein Leben mehr aufs Spiel setzen zu müssen als ohnehin schon.
"Mia."
Sam kommt auf mich zu und er sieht nicht sonderlich zufrieden aus. Mit einem Klemmbrett in der Hand und einem Stift hinter dem Ohr sieht er aus wie ein waschechter Nerd. Ich stehe von der Couch auf und er stellt sich mir gegenüber.
"Riko, der dich morgen hätte einweisen sollen, hat sich heute draußen anscheinend den Knöchel verstaucht. Von den anderen traut sich keiner die Einweisung zu übernehmen. Sieht so aus als müsstest du noch etwas länger warten als geplant."
Mit einem entschuldigenden Blick verlagert er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Er weiß, wie sehr ich mich darauf gefreut habe endlich hier raus zu kommen und jetzt das? Die anderen sind zu feige um mich unter ihre Fittiche zu nehmen, weil es ihre Schuld wäre wenn mir was passiert. Riko hat die Neulinge immer an die Hand genommen aber kurz vor meinem großen Tag muss er sich verletzen? Ich bin mir sicher, dass man mir die Enttäuschung ansieht aber ich kann es nicht ändern. Wie lange braucht so ein verstauchter Knöchel um zu heilen? Eine Woche? Einen Monat?Trost suchend wandert mein Blick zu Terra aber die strahlt nur wie ein Honigkuchenpferd. Findet sie das etwa lustig?
"Dann bleibt mir wohl nix anderes übrig als Mia selbst einzuweisen!"
Sie spring enthusiastisch von der Couch auf und legt einen Arm um meine Schulter.
"Ich weiß, ich bin selbst noch nicht so lange draußen aber ich mache meinen Job gut! Du kannst Riko und die anderen aus der Gruppe fragen. Außerdem vertrauen wir uns blind und sind somit ein perfektes Team."Simon's Gesicht friert ein und ich bilde mir ein sehen zu können, wie die Zahnräder in seinem Köpf mühsam versuchen, die Worte von Terra zu verarbeiten. Wenn ich ehrlich bin würde ich ihr niemals einen Anfänger an die Hand geben, dafür mangelt es ihr zu sehr an Ernsthaftigkeit. Aber vielleicht ist das nur meine Ansicht und sie ist in Wirklichkeit eine tolle Lehrerin. Naja, es liegt wohl eher daran, dass ich langsam klaustrophobisch werde aber ich würde jedem folgen, wenn ich dafür endlich an die frische Luft kann. Ich habe das Gefühl, dass meine Gedanken gerade auf Kriegsfuß mit meiner Logik stehen, die ich eigentlich als Fundament jedes Gewissenskonfliktes gewählt habe. Meine beste Freundin schwebt währenddessen auf Wolke sieben und scheint es auch noch als Triumph anzusehen, Simon so aus der Fassung zu bringen. Dieser wiederum räuspert sich nur, murmelt
"Gib mir eine Minute."
und verschwindet so schnell wie er gekommen ist.Freue ich mich nun über das Angebot von Terra oder gelte ich dann als suizidverdächtig? Man kann doch von der Unschuld in Person nicht gelehrt bekommen, wie man in einem Notfall um sein Leben kämpft. Oder etwa doch?
"Mia, das wird toll! Wenn Simon nachgibt, und das wird er, verbringst du deine erste Mission draußen an meiner Seite!"
Ich bin hin und her gerissen, dem einen Teil von mir gefällt das überhaupt nicht aber der andere freut sich umso mehr. Ich weiß, dass ich logisch gesehen sagen sollte, dass ich es für keinen klugen Schachzug halte aber dann verletze ich ihre Gefühle. Simon ist intelligenter als ich. Die Entscheidung die er treffen wird, wird keine falsche sein. Allerdings scheint er härter mit sich zu ringen als gedacht, denn als er nach einer halben Stunde, dann einer und dann zwei Stunden noch immer keine Entscheidung fällen kann, beginnt meine gewonnene Sicherheit mehr und mehr zu bröckeln. Später, kurz vor dem schlafen gehen, reißt er mich dann aus den Gedanken. Ich habe ihn nicht kommen sehen, da ich bereits leicht weggedöst bin und die Zweifel schon angefangen haben mich aufzufressen wie die SiVi die Körper von rund drei viertel der Erdbevölkerung. Die Hoffnung auf ein Ja von ihm überwiegt aktuell noch immer die Unsicherheit. Er hat anscheinend nicht so lang für die Entscheidung gebraucht sondern gewartet, bis Terra nicht mehr an meiner Seite ist.
"Morgen wirst du mit Terra als Lehrerin nach draußen gehen, Mia."
Mir wird sofort etwas wärmer und ein Lächeln ziert meine Lippen. Jedoch weicht es auch gleich wieder einem besorgten Stirnrunzeln, da Simon überhaupt nicht glücklich damit zu sein scheint. Aber warum erlaubt er es dann?
"Simon, wenn du es für keine gute-"
"Hör zu."
Er unterbricht mich sofort und seine Stimme wird zu einem fast lautlosen Flüstern.
"Ich hätte es unter normalen Umständen niemals gestattet aber du musst so schnell wie möglich lernen draußen zu überleben. Du bist klug und die Grundkenntnisse in der Praxis kann auch Terra dir beibringen. Versuch so viel wie möglich zu erfahren, stell Fragen und präge dir die Taktiken so schnell es geht ein, verstanden? Terra soll dir nur das Wichtigste zeigen. Und bitte, pass auf sie auf."
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Covered - in der Dunkelheit
Genç KurguEin paar Monate ist es nun her. Wie lange genau kann keiner sagen, weil die Sonne schon seit Jahrzehnten nicht mehr von allein scheint. Die letzte funktionierende Uhr, eine große Atomuhr, steht in einer Stadt weit weg von hier. Sie ist es, die unser...