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Simon's Reaktionen auf das, was ich ihm erzähle sind für mich alles andere als nachvollziehbar. Er ist offensichtlich ernst bei der Sache aber weder geschockt noch traurig. Während ich alles genau so wiedergebe wie ich es erlebt habe, hört er still zu. Es fällt mir leicht bis zu der Stelle an der Terra und ich in den Obstladen verschwinden. Ich kann es mir nicht erlauben erneut so schwach und emotional zu werden also schließe ich von dem Punkt aus die Augen.
"....der erste Virus hat ihr eine große Wunde in den Bauch gefressen. Wir hätten sie nicht mehr retten können aber sie schrie trotzdem weiter."
Mein Gegenüber nickt sanft und nimmt meine Hände zur Beruhigung.
"Sie war eine Kämpferin, Mia. Bis zur letzten Sekunde und darauf kannst du stolz sein."
Es stimmt, die hat gekämpft. Aber aufgrund des Adrenalins hätte das wohl jeder so getan. Nichtsdestotrotz ist sie etwas Besonderes, Terra mit anderen zu vergleichen währe alles andere als ehrenvoll von mir.
"Die anderen haben ihre Schreie auch gehört und sind in den Laden gekommen. Laurenz hatte seine Maske nicht auf und einer der Siren-Viren hat ihn gesehen. Als es ihn auch noch angreifen wollte habe ich keinen anderen Ausweg gesehen als den Schrank umzustoßen...für Terra war es eh zu spät."
Ich löse eine meiner Hände aus denen von Simon und wische mir eine Träne von der Wange.
"Verdammt, wie soll ich das ihren Eltern erklären? Sie war noch am Leben. Ich habe sie erschlagen. Vielleicht hätte man sie noch irgendwie retten können!"
"Mia!"
Simons Mimik wirkt auf einmal gar nicht mehr so neutral wie zuvor.
"Wenn ein Virus dich erwischt ist es aus! Und du musst mit diesen Selbstanschuldigungen auch endlich aufhören, verstanden? Wir haben etwas Großes vor uns und können es uns nicht leisten auf deine Hilfe verzichten zu müssen. Terra ist tot und egal was nun wirklich passiert ist oder passieren hätte können, sie wird nicht zurück kommen."
Mit jedem Wort nimmt seine Stimme an Druck und Lautstärke ab. Meine Hilfe? Ich war nicht mal intelligent genug um auf die Idee zu kommen, die Leuchtdauer der Lampe einfach an einer Zweiten zu testen! Meine Idee lief nur ins Leere und genau das tun meine Gedanken gerade auch. Ich ziehe die Hände nun ganz zurück und wende mich von ihm ab. Den Rückweg wird er ja sicher nicht zwingend von mir hören müssen.
"Hör zu, Süße...ich weiß du fühlst dich beschissen aber ein paar von uns fangen langsam an sich wirklich seltsam zu benehmen. Diese Isolation ist nicht gesund. Wir müssen nur noch ein paar wenige Cover herstellen und dann können wir hier raus. Ich habe den Auftrag heimlich schon vor einem Tag herausgegeben und die Maschinen sind schnell. Wenn es so weiter geht, können wir vielleicht schon morgen früh los."
Woher will er wissen wann morgen ist? Ich weiß nicht mal ob Tag oder Nacht. Welche Jahreszeit haben wir überhaupt?

Mein Blick trifft seinen.
"Keiner außer dir kennt diese andere Gruppe, Simon. Warum sollten die Leute einfach folgen, wenn da draußen der sichere Tod warten könnte? Besonders viele Informationen gibst du ja auch nicht preis." 
"Ganz einfach. Ein Großteil der Leute hier vertraut mir blind, da bin ich mir sicher. Und der Rest kann entweder folgen oder hier bleiben und sterben. Ohne kluge Köpfe wie dich und mich ist die Überlebenschance hier winzig. Wir werden in Gruppen gehen. Ich weiß es ist grausam aber die Leute, die psychisch nicht mehr ganz stabil und unberechenbar sind, werden eine Gruppe bilden. Wir müssen unsere eigene Chance erhöhen und mit Menschen, die jederzeit schreien oder ihre Maske absetzen könnten ist es einfach zu riskant."
Ich will ihn anschreien oder ihm für diese Idee eine verpassen...aber ich kann nicht. Er hat recht. Es ist möglich, dass wir alle lebend ankommen aber zu riskant zusammen zu gehen. Er erwartet sicherlich einen Widerspruch von mir. Vielleicht ist er sich selbst nicht sicher und will meine Meinung dazu aber jeder rational denkende Mensch würde die Idee einfach stumm abnicken. Und ich bin einer davon.

"Wie willst du das den Leuten erklären? Schöpfen sie nicht verdacht?"
Simon zuckt nur die Schultern und steht auf. Ist das tatsächlich die bisher einzige Lücke in seinem Plan?
"Du weißt schon, wenn das rauskommen sollte hast du gleich mal eine Hand voll Vertraute weniger." 
"Ich weiß, ja. Aber das Risiko müssen wir eingehen. Mein Notfallplan ist es, dass du dich als Führer anbietest, wenn ich auffliegen sollte. Deshalb musst du das hier auch geheim halten, verstanden? Dein Verständnis für andere ist viel besser als meins also musst du dich trotzdem auch für meinen Plan einsetzen. Bring sie alle dazu, der Bildung der Gruppen zuzustimmen aber gib nicht preis, dass wir bereit sind die psychisch kranken zu opfern wenn es sein muss. Sollte jemand dahinter kommen musst du so tun, als hättest du von dem Teil keine Ahnung gehabt."
Dann wäre ich für die Leute wohl ein Licht am Ende des Tunnels, wenn der Ursprüngliche Anführer sich als Verräter entpuppt. Die Chance, dass sie mir dann blind vertrauen steigt ebenfalls.
"Na gut, bin dabei. Aber jetzt will ich erstmal wissen wohin wir denn überhaupt gehen."
In Simons Augen ist auf einmal ein leichtes Glitzern. Irgendwas scheint seine Laune zu heben, bei dem Gedanken an diese andere Gruppe. Er war schon immer ein Abenteurer, erzählt gern von seiner Vergangenheit. Früher haben wir nicht wirklich Zeit zusammen verbracht aber dank Terra kamen auch wir uns näher. Während der Isolation wurde er dann mein bester Freund, direkt nach Terra und jetzt ist er alles was ich noch habe. Simon's Blick wandert zur Tür und verweilt dort für ein paar Sekunden.
"Das muss aber alles unter uns bleiben. Am besten gehst du erstmal duschen und ziehst dir ein bequemeres Outfit an. Sag den anderen, dass du dich zu schlecht fühlst um allein zu schlafen und komm heute Nacht mit mir in einen privaten Raum. Ich erzähle dir dann alles, was du wissen musst. Diese Mission liegt dann aber auch in deinen Händen. Nicht mehr nur in meinen."
Die Warnung ist eindeutig. Wenn ich erstmal alles weiß, muss ich ihn auch bei der Leitung von alledem hier unterstützen. Er hätte mich auch einfach fragen können aber er kennt mich wohl zu gut. Ich hätte sicher nicht zugesagt, denn sollte eine Gruppe tatsächlich getötet werden, würden Simon und ich uns diese Last teilen und sie zusammen tragen müssen. Aber ich will unbedingt wissen worauf ich mich hier einlasse. Auch wenn ich dann ein paar Leichen mehr auf dem Gewissen habe. Und außerdem lasse ich meinen besten Freund dann damit wenigstens nicht allein...

Wieder ernte ich nur traurige, mitleidige Blicke, als ich auf dem Weg zu den Duschen durch den großen Hauptraum gehe. Ich versuche zwar relativ selbstbewusst zu laufen aber wem mache ich hier was vor? Selbstbewusstsein ist seit Monaten kein Dauergast mehr bei uns. Leider sind die Arbeiterduschen hier kalt, ungemütlich und wahrscheinlich der Brutplatz für Fußpilz. Egal wie viel Mühe sich einige gegeben haben um es angenehmer zu gestalten, es war erfolglos. Ich schätze große Ansprüche kann ich eh nicht stellen. Ich schließe also den Raum ab und gehe zu der Umkleidekabine, in der ich mich schon vor unserem Aufbruch umgezogen habe. Ich war so motiviert, dass ich meine Klamotten dort vergessen habe und wie zu erwarten, sind sie auch noch da. Langsam streife ich mir den schwarzen Stoff vom Körper und hänge das Cover an einen Haken an der Kabinentür. Vor einigen Stunden war ich so glücklich es überhaupt zu berühren...und jetzt fühle ich überhaupt nichts. Ich verbinde damit zu viele schöne Gefühle um traurig zu sein aber auch zu viele unglückliche Erlebnisse um fröhlich zu sein. Das heiße Wasser lässt mich allerdings entspanen. Es ist wie eine Umarmung, die mir so viel Wärme spendet wie ich brauche aber trotzdem nicht genug.

Da kommt mir etwas in den Sinn, was ich in einem der vielen Bücher hier gelesen habe. Einsame oder traurige Menschen duschen aus genau so einem Grund auch meist länger als andere. Nachvollziehbar..
Nach einer ganzen Weile klopft jemand vorsichtig an die Tür. Keine Ahnung wie lange ich jetzt schon hier drin bin aber anscheinend etwas zu lang.
"Ich bin gleich fertig!"
Rufe ich der Person zu und stelle das Wasser ab. Sofort wird mir kalt und ich trockne mich schnell ab, ziehe meine alten Kleider an und verlasse das Bad. Es ist ein junges Mädchen, ungefähr 12, welches vor der Tür steht und zu mir auf sieht. Sie lächelt. Es tut gut dieses Lächeln zu sehen. Irgendwie gibt es mir einen Funken Hoffnung zurück. Sie wird mal ein immer-glückliches Mädchen, genau wie Terra, die genau das gleiche Lächeln hatte. Ich kenne sie, ihr Name ist Rosalie so weit ich weiß. Oft waren wir zur selben Zeit im Park und haben gepicknickt. Sie mit Familie und ich mit Freunden. 

Nachdem sie im Bad verschwunden ist, mache ich mich auf den Weg zu meinen Eltern um ihnen zu erklären, warum ich die letzte Nacht hier lieber mit einem Jungen verbringe als mit ihnen. Ich kann nur Hoffen, dass sie mir keine Kondome zustecken und mich daran erinnern, dass ich gerade einfach nur frustriert bin und nix überstürzen sollte....

Covered - in der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt