Zu meiner Verwunderung bringt es Simon tatsächlich fertig, die Gruppen in Schwache und Strake zu unterteilen und das ohne, dass jemand es merkt. Das stellt er aber auch verdammt clever an. Er unterscheidet zudem zwischen psychisch und körperlich schwachen Menschen. Jede Gruppe hat ein paar schwächere aber die mit uns beiden ist offensichtlich mit den besten Chancen gesegnet. Es ist grausam, dass wir so herzlos handeln müssen aber ich habe mir die Sache nochmal durch den Kopf gehen lassen und Simon hat Recht. Er ist eindeutig der Klügste hier, rational betrachtet. Und wenn er sich sicher ist, dass er mit diesem Dameon die Uhr reparieren und unsere Welt retten kann, dann hat sein überleben höchste Priorität. Es klingt egoistisch, dass er sein Leben über unseres stellt aber ihm bleibt keine Wahl.
Ob er darunter leidet? Ich glaube an seiner Stelle würde ich es auch nicht anders handhaben. Immerhin geht das Überleben der menschlichen Rasse über das einer Gruppe. Nein, eigentlich würde nicht nur die Menschheit aussterben. Alles würde sterben. Ich frage mich, wie viele Tierarten bereits darunter zu Grunde gerichtet wurden. Eigentlich hätten wir schon bei dem Stopp der Erdumdrehung davongeschleudert werden müssen. Glücklicher Weise haben unsere Wissenschaftler da ausnahmsweise mitgedacht und irgend einen in der Erde verankerten Dämpfer erfunden, der die Erdanziehung verstärkt und die vermeintliche Fortsetzung dieser Bewegung simuliert. Leider wird das niemals stark genug für Gewässer oder Berge sein. Bis zum nächsten großen See sind es von hier viele Hunderte Kilometer aber ich will mir gar nicht ausmalen, wie die Landschaften nun aussehen. Oder die Wolkenkratzer in den Städten. Alles, was mehr als ein paar Dutzend Meter aus der Erde ragt, wurde mit großer Sicherheit zerstört und die Hafenstädte überschwemmt.
Ich weiß ja, dass das jetzt gerade meine geringste Sorge sein sollte aber es ist doch grausam. Wahrscheinlich sind sogar mehr Menschen aufgrund von Umweltkatastrophen gestorben als von SiVi getötet wurden.Mit dem gewohnten lauten Scheppern öffnet sich die massive Haupttür und die erste Gruppe startet. In dieser Gruppe befinden sich viele Leute, die Körperlich keine große Kraft aufbringen können oder ein Handicap haben. Zur Vertuschung der Intrige hat Simon zwei sehr feinfühlige Frauen und einen ziemlich großen Mann als Unterstützung eingeteilt. Somit haben die anderen Zweiundzwanzig sich weitestgehend auf die moralische Perfektion dahinter fokussiert. Leider ist auch Rosalie eine der Schwächeren. Bevor sie in der Dunkelheit verschwinden, dreht das Mädchen sich noch ein letztes Mal zu uns um. Ich verabschiede sie mit einem motivierenden Lächeln aber bekomme keine Reaktion. Wahrscheinlich ist sie viel zu nervös um mich überhaupt richtig wahrzunehmen.
Sobald die letzte Silhouette mit dem Schwarz der Außenwelt verschmilzt, greife ich nach dem Walkie-Talkie an meinem Gürtel und halte den Hauptknopf an dessen Seite gedrückt. "Kurzer Test, Rosalie, hörst du mich?"
...
Wir haben ihres doch eingeschaltet, oder?
"Rosalie?"
...
Stille. Eine Reaktion bleibt aus. Um mich herum verstummen alle und warten auf ein Lebenszeichen. Ich habe es vorher nicht getestet, das kam mir nicht in den Sinn. Wie blöd kann ich sein?! Der Muskelmann hat zwar eine Karte und eine halbwegs funktionierenden Orientierungssinn aber wir haben die Gruppen nur erstellt, um im Falle eines Unfalls die anderen Gruppen zu warnen. Ohne Walkie-Talkie aber schlecht.
...
Ein Knacken ist zu hören und reißt mich aus meinen Selbstzweifeln, bevor tatsächlich eine Verbindung aufgebaut wird. Zuerst ist es nur Surren aber dann sind Stimmen zu vernehmen.
"-Knopf gedrü-...", flüstert eine Frau, die anscheinend Rosalie zu Hilfe kommt aber auch schnell wieder unterbrochen wird.
"So? Hallo? Mi-a..."
Erleichtert atme ich auf, meine angespannten Schultern sacken ab und auch den anderen fällt offensichtlich ein Stein vom Herzen, als Rosalies Stimme durch den Lautsprecher ertönt. Meine Hände zittern ein wenig.
"Rosalie, ich höre dich!"
Erneut wird es still.
"..-ia. Ich dich auch. Es funktioniert!"
Obwohl Rosalie sehr leise und ein wenig nervös spricht, kann man auch bei ihr die Erleichterung hören. Simons warme Hand auf meiner Schulter hilft mir zu entspannen und um uns herum beginnen die Leute wieder zu tuscheln. Kurz darauf startet auch schon die zweite Gruppe. Ohne Walkie-Talkie. Sie müssen darauf achten, dass sie immer Gruppe Eins im Blick behalten, was gar nicht so leicht ist. Die meiste Zeit gehen wir auf der Straße im Laternenlicht aber das letzte Viertel der Strecke kreuzt einen Wald, in dem sich kaum einer von uns wirklich auskennt. Er ist eine der wenigen Naturschutzgebiete, die es noch gibt und deshalb können wir auch keinen Pfaden folgen. So wirklich gefährlich wird es auch erst ab dort, bis dahin besteht das einzige Risiko aus den Menschen unter uns, welche psychische Schäden mit sich tragen. Wenn einer von ihnen einen Virus auf sich aufmerksam macht, ist die ganze Gruppe in Schwierigkeiten. Ich bete für sie.
Rosalies Walkie-Talkie wird noch ein paar Mal versehentlich aktiviert. Immer mal wieder sind leise Stimmen oder einfach Schritte auf Kies zu hören, gepaart mit nervösem Schweigen."Wann starten wir?"
Nach einiger Zeit, in der die ersten Fünfzehn bereits über alle Berge sein müssten, beginne ich hibbelig zu werden. Meine Gruppe ist die Nächste und außer Simon und mir stehen alle bereits in den Startlöchern. Da ich das zweite Walkie-Talkie habe, müssen wir nicht auf Gruppe Zwei achten. Die Gruppe nach uns muss sich dann an unsere Fersen heften. Simon bemerkt meine Frage nicht. Er ist zu beschäftigt damit, die Fragen der anderen abzuwehren ohne ins Fettnäpfchen zu treten. Dann dauert es wohl noch etwas.
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung in Richtung der Waschräume wahr. Eigentlich wurde aber bekannt gegeben, dass nur noch der Aufenthalt in dem großen Saal erlaubt ist. Um mich herum verschwimmen die Geräusche und meine ganze Aufmerksamkeit zieht sich auf die Badtür.Ich scheine mittlerweile so mit der Menge verschmolzen, dass es keinem auffällt, als ich mich in Bewegung setze und unauffällig den gefliesten Raum betrete. Aber mehr als das monotone Tropfen einer kaputten Dusche ist nicht zu hören. Ich gehe zu der ersten Kabine und drücke die Tür vorsichtig, mit einem leisen quietschen auf. Niemand drin. Das Gleiche gilt für die zweite und dritte. Vor der vierten und letzten Tür zögere ich. Ich bin mir sicher, dass jemand hier hinein gegangen ist doch der Raum ist leer. Und auch als ich die letzte Tür öffne, ist neben der eben erwähnten kaputten Dusche und einem verstopften Abfluss nichts als Luft darin. Eine Welle der Erleichterung überkommt meinen Körper und ich bemerke, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe. Aber warum macht mich das so nervös? Mit einem Seufzen schließe ich die Tür und drehe mich Richtung Ausgang. Und im nächsten Moment bricht meine Welt zusammen.
Ein lauter Schrei zerkratzt mir die Kehle und ich stürze erschrocken zurück. Vor der Tür stet Terra und versperrt mir den weg.
Aber dieses Mädchen vor mir ist tot, ich habe sie sterben sehen! Wie kann das sein?
Das Wasser unter meinen Füßen, welches von dem kaputten Duschkopf in einer Pfütze mitten im Raum endet, nimmt mir das Gleichgewicht und mir zieht es die Beine zur Seite. Mein Kopf schlägt hart auf das Metall der Heizung hinter mir. Terra's Blick folgt mir aber sie bewegt sich nicht, spricht nicht. Auf dem Boden liegend sehe ich nur noch ihre Füße, während mir langsam Schwarz vor Augen wird. Elegant dreht sie sich auf den Zehenspitze von mir weg und geht geräuschlos auf die Tür zu. Will sie mich verlassen? Schon wieder?
"Terra...", keuche ich mühevoll, "bitte bleib bei mir."
Doch bevor sie die Tür erreicht, verliere ich den Kampf gegen meinen dröhnenden Schädel und die Müdigkeit und schlafe ein.Hat sie vielleicht doch überlebt und wir haben sie zurück gelassen? Sie war doch so entstellt. Oder war das gar nicht Terra? Oder ist sie hier? Oder nicht....oder doch....
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Covered - in der Dunkelheit
Genç KurguEin paar Monate ist es nun her. Wie lange genau kann keiner sagen, weil die Sonne schon seit Jahrzehnten nicht mehr von allein scheint. Die letzte funktionierende Uhr, eine große Atomuhr, steht in einer Stadt weit weg von hier. Sie ist es, die unser...