Kapitel 4 - Bücher

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Vor den Türen zu unseren Zimmern stehend lächle ich Feli noch einmal zu, drücke dann die hübsch geschwungene Türklinke herunter und trete in mein Schlafgemach ein. Mir ist nicht wirklich wohl bei dem Gedanken hier zu schlafen. Doch die Müdigkeit lässt mir keine andere Wahl. Es muss inzwischen fast dämmern draußen. Wie lange wir wach waren...
Erschöpft stapfte ich durch mein Zimmer über die staubigen Teppichläufer zu meinem Bett. Ich streife mir die Turnschuhe von den Füßen und setze mich auf die Bettkante. Erleichtert stütze ich mich nach hinten ab und atmete tief durch.
Das Klopfen an der Verbindungstür ließ mich aufsehen. Was wollte Feli denn jetzt noch? Ich rief ihr ein „komm rein“ entgegen. Dann drückte sie die Tür auf und lugte mit dem Kopf hindurch.
„Du Laura?“ Sie hatte wieder diesen Dackelblick aufgesetzt.
„Was denn?“ Meine Laune war inzwischen miserabel. Ich wollte schlafen. Und Feli hielt mich gerade davon ab.
„Ähm... Könnten wir die Tür hier auf lassen?“ Sie biss sich auf die Lippe.
Ich seufzte. „Warum soll sie denn auf bleiben?“ Eigentlich hatte ich es lieber in ruhiger Abgeschiedenheit zu schlafen.
„Naja... der Graf... Ich meine nur...“ Sie zuckte mit den Schultern und sah mit großen Augen zu mir.
„Meinst du er kommt einfach so hier reingeschneit? Am Tag?“
„Ich weiß nicht.“ Feli kratzte sich am Nacken.
Ich stand auf und tapste auf Socken zu ihr herüber. „Feli, ganz ehrlich: Draußen wird es bald hell. Der Graf ist ein Vampir, der wird sich in seine Gruft verkrümeln. Und wir haben den ganzen lieben langen Tag Zeit uns ausgiebig aus zu ruhen.“ Ich stupste mit der Faust gegen ihre Schulter und Feli lächelte halbherzig.
„Also zumachen?“
Begeistert klang sie nicht, doch ich nickte müde. „Zumachen. Wenn was ist brauchst du ja nur klopfen. Oder reinkommen. Ich werd dir schon nicht den Kopf abreißen.“ Ich musste ein Gähnen unterdrücken, so müde war ich inzwischen. Meine Augen entschieden sich, zuzubleiben.
„Okay,“ murmelte Feli und stupste mich zurück. Ich zog die Lider wieder hoch. Sie lächelte. „Gute Nacht.“
„Guten Tag wohl eher,“ meinte ich und musste doch gähnen. „Schlaf gut.“
„Du auch.“ Mit den Worten zog Feli die Tür wieder zu. Als ich zurück zu meinem Bett ging hörte ich ein leises Klacken. Sie hatte sie also doch wieder auf gemacht und angelehnt. Ein Schmunzeln zog sich über meine Lippen. Dann schlug ich die Zudecke weg, ließ mich auf die Matratze plumpsen und lehnte mich in die Kissen zurück. Kaum dass ich lag sank ich bereits ins Land der Träume. Und daraus wecken konnten mich selbst sie Sonnenstrahlen nicht, die warm auf meiner Haut kitzelten.
Geweckt wurde ich erst, als ich jemanden in meinem Zimmer kramen hörte. Ich blinzelte verschlafen in das helle Orange, das mich umgab. Nur langsam realisierte ich, wo ich eigentlich war. Dann sah ich, wie Feli etwas auf dem Schreibtisch suchte. Verdutzt setzte ich mich auf. „Was suchst du denn da?“ Ich wuschelte mir durch die Haare und beobachtete die Blonde.
Die sah ertappt auf, bevor sie ihre Suche fortsetzte. „Meine Ohrstecker.“ Sie zog eine große Schublade auf, wühlte in den sich darin befindenden Papieren und schob sie seufzend wieder zu. „Ich kann die einfach nicht mehr finden, keine Ahnung.“
Ich gähnte und streckte mich, dann schwang ich die Füße aus dem Bett. Mir war klamm zumute. „Warum sollten die hier liegen?“
„Naja, ich nehm' sie immer vorm Schlafen ab. Und gestern war ich ja noch bei dir.“ Jetzt widmete sie sich meinem Nachttischchen.
„Heute. Du warst heute bei mir.“ Ich rieb mir über den Nacken und schnaufte schließlich. Meine Schultern waren irgendwie verspannt. „Sind sie denn nicht bei dir?“
Feli schüttelte den Kopf. „Ich hab bei mir schon alles durchsucht. Nichts zu finden. Die sind weg.“
„Ach quatsch, das kann doch gar nicht sein. Wo sollen die denn hin sein?“ Ich bückte mich und sammelte meine Turnschuhe ein, ehe ich sie mir auf die Füße zog.
„Ja weiß nicht. Hier sind sie jedenfalls nicht.“ Feli gab auf und hob die Arme hilflos in die Luft. „Mann, scheiße! Die hab ich zur Konfirmation bekommen!“ Niedergeschlagen setzte sie sich neben mich. Die Abendsonne warf lange Schatten durch den Raum.
„Hey, die finden sich schon wieder an,“ munterte ich sie auf und boxte sie gespielt in die Seite. Feli quiekte auf... anscheinend war sie dort kitzlig. Ich schmunzelte. „Hör mal, es wird bald dunkel. Und wahrscheinlich werden wir dem Grafen wieder über den Weg laufen. Wollen wir nicht mal sehen, was sich so in den Schränken verbirgt?“
Feli atmete tief durch, gab sich dann aber geschlagen. „Okay. Mal sehen was so an verstaubten Kleidern zu finden ist.“ Sie lächelte mich schief an. Ich konnte noch immer etwas Frust in ihrem Blick erkennen, doch der zuversichtliche Glanz war in ihre Augen zurück getreten.
Mit einem gegenseitigen Nicken standen wir auf. „Erst du,“ entschied ich, ehe Feli sich auf den Schrank in meinem Zimmer stürzen konnte. Ich mochte ja doch lieber vorher wissen, auf was für Textil ich mich einstellen musste. Also gingen wir zuerst in Felis Zimmer. Um dort die großen Türen des Mobiliars zu öffnen. Für einen Augenblick starrte ich auf die Farben und Stoffe. Seide, Samt, Satin. In Lindgrün, Weinrot oder auch Creme...
Feli fing als erste wieder an zu sprechen. „Wow, das sind ja viele! Welches davon soll ich nehmen?“ Sie strich mit einer Hand über die Stoffe. Ich fragte mich indes, wofür der Graf so viele Kleider auf bewahrte.
„Probier doch erst einmal eins an. Ich glaube nicht, dass dir alle passen werden, so unterschiedlich wie die geschnitten sind.“ Ich lächelte zaghaft, so überrannt fühlte ich mich noch von dieser Vielfalt. Geizig war der Graf jedenfalls nicht, das musste man ihm lassen.
„Meinst du?“ Feli legte den Kopf schief. „Ich werd mir einfach mal eins rausgreifen. Zufallsprinzip.“ Das Lächeln auf ihrem Gesicht erinnerte mich wieder an die Frohnatur, die ich bisher von ihr kannte.
„Nur zu,“ munterte ich sie auf. Sie hielt sich die Augen mit einer Hand zu. Mit einem beherzten Griff der anderen fischte sie nach einem Bügel, hob ihn von der Stange und zog ein blassblaues Kleid in weicher Seide hervor. Die Taille war eng geschnitten. Und der Ausschnitt nicht gerade klein. Doch Felis Augen leuchteten beim Anblick des Kleides.
„Das ist toll,“ flüsterte sie gefangen.
„Probier's an, ich geh' schon mal bei mir gucken.“ Ich klopfe ihr auf die Schulter und verschwinde in mein Zimmer, die Verbindungstür hinter mir schließend. Das Orange hinter meinem Fenster verwandelte sich bereits in ein intensives Rot. Die Stirn in Falten legend öffnete ich den Schrank.
Auch hier begrüßte mich eine Wolke Staub von der Oberkante der Schranktür. Die Kleider selbst waren wie die von Feli fein säuberlich sortiert. Ich tastete diesmal selbst erst nach dem Stoff, fühlte die Beschaffenheit der Fasern. Samt war eindeutig nichts für mich. Seide war fast ein wenig glatt. Als ich feine Baumwolle unter meinen Fingern spürte hellte sich meine Miene auf. In den Stoff waren einzelne silberne Fäden eingestickt, die ein hübsches Muster aus Blumenranken formten. Ich zog nahm es von der Stange und betrachtete es. Eigentlich war der Schnitt gar nicht schlecht. Nur die goldene Farbe schreckte mich ein wenig ab.
In dem Moment klopfte Feli an die Tür. „Herein,“ rief ich ihr entgegen und warf noch einen prüfenden Blick auf den Stoff in meinen Händen.
„Das sieht ja gut aus,“ flötete die Blonde, als sie herein kam. Das blaue Kleid passte ihr wie angegossen. Die aufgenähte Spitze im Schulterbereich ließ sie edel und stilvoll erscheinen.
„Du aber auch,“ gestand ich.
„Danke. Aber was ist jetzt mit dem Kleid? Anprobieren?“ Feli zwinkerte verheißungsvoll.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ist bisschen eng, oder?“
„Ach quatsch,“ winkte Feli ab. „Passt schon. Meins sah auch enger aus als es ist.“
Ich betrachte noch einmal geringschätzend den Stoff, dann nicke ich langsam. „Okay, ein Versuch ist es wert.“
Bei dem Versuch blieb es dann auch. Ich konnte das Kleid problemlos anziehen. Es saß sogar nicht mal allzu schlecht. Doch bei dem Vorhaben, die kleinen Knöpfe im Rücken zu schließen kam ich auch mit Felis Hilfe zu keinem Ergebnis. Es war einfach zu klein. Verdammt.
Ernüchtert zog ich das Kleid wieder aus, hängte es zurück auf den Bügel und dann zu seinen Freunden in den Schrank. Und dann ließ ich meinen Blick erneut über die präsentierte Kleidung schweifen. Ein mattes Dunkelgrün fiel mir besonders auf. Neugierig zog ich den Stoff ein wenig vor und entschied, dieses Kleid als nächstes an zu probieren.
Die leicht schimmernde Seide schmiegte sich wundervoll an meinen Körper... Bis zu meinen Hüften. Denn wo der Stoff eigentlich locker drüber wallen sollte war nur der Anblick einer Wurstpelle zu betrachten. Niedergeschlagen zupfte ich noch zweimal am Rock, dann gab ich es auch hier auf und hängte das Kleid zurück in den Schrank. Schnaubend betrachtete ich nochmal die Auswahl. Meine letzte Hoffnung war eine nachtblaue Variation aus glänzendem Satin, von Silberfäden durchwirkt, und eingenähter heller Spitze sowie feinen Rüschen an Ärmeln und Dekolté. Ich rümpfte die Nase bei so viel Prunk. Zumal der Rock des Kleides aus mehreren Lagen bestand und sich unangenehm schwer anfühlte. Doch ich wollte nicht knausern.
Und zu meiner Überraschung passte es mir sogar.
Zufrieden strich ich den Stoff glatt und nestelte an den Schnüren im Rücken, bis diese annehmbar zugezogen und mit einer Schleife gekrönt waren. Als ich mich dann im Spiegel betrachtete war mir weniger froh zumute. Das Kleid sah irgendwie... falsch aus. Es war so prachtvoll. Und so edel. Und es erweckte in mir den Eindruck, auf dem Silbertablett präsentiert zu werden. Als besonderer Leckerbissen. Wie ein geröstetes Schwein mit rotem Apfel im Maul... oder so.
Ich rieb mir mit den Händen über die Arme. Das Kleid war zum Glück nicht ärmellos und bedeckte meine Oberarme mit glänzendem Stoff. Ich seufzte und zupfte an meinen Haaren, bis sie einigermaßen lagen. Dann ging ich zu Feli herüber.
„Hey... wow!“ Die Begrüßung fiel überschwänglicher als erwartet aus. „Das sieht ja klasse aus!“
Ich winkte halbherzig ab. „Ist doch nur ein Kleid.“
Feli zwinkerte mir zu. „Aber du wirst dem Grafen sicherlich gefallen.“ Genau das war der Knackpunkt. Wollte ich dem Grafen gefallen? Doch Feli bemerkte meinen missmutigen Blick nicht und deutete auf zwei Teller auf ihrem Schreibtisch. „Koukol hat Brot und Käse gebracht. Und Wasser. Wir sollen wohl nicht verhungern,“ meinte sie gelassen.
„Das ist aber nett,“ antwortete ich. Mein Blick wanderte über die Teller, als ich mich ihnen näherte. Der Käse war hart und runzlig. Das Brot fest, teilweise schon dunkel angetrocknet. Ich rümpfte die Nase, doch das Knurren meines Magens erinnerte mich an meinen Hunger. „Welchen Teller willst du?“
Feli zuckte mit den Schultern. „Mir egal. Such du dir aus, ich hab eh kaum Hunger.“ Auch ihr Magen gab laut grummelnde Geräusche von sich.
Ich lächelte schief. „Ist klar.“ Dann griff ich mir wahllos einen der Teller und setzte mich auf die Bettkante zu Feli. „Guten Appetit,“ meinte ich noch, dann brach ich ein Stück des Milchproduktes ab. Tatsächlich war das Zeug hart und nicht gerade gut zu brechen. Als ich mir den Krümel in den Mund schob, musste ich reichlich kauen. Es erinnerte an ausgelatschte Schuhsohlen. Und es schmeckte nicht besser, als Käsefüße rochen.
Auch Feli beäugte zweifelnd die Brot-Beilage. „Kann man das echt essen?“
Ich schluckte schwer. „Also noch lebe ich,“ entgegnete ich lächelnd. Dann riss ich einen Fetzen Brot von einer der Scheiben. „Ich will trotzdem nicht fragen, wie lange das Zeug schon hier rum liegt. Also im Schloss, meine ich.“
Feli hielt ihren Käse-Krümel begutachtend in die Luft, musterte ihn von allen Seiten. „So richtig überzeugen will er mich nicht,“ gestand sie prustend.
„Ach komm, hau hinter das Ding.“ Ich schmunzelte und riss ein weiteres Stück Brot ab. Bevor ich jedoch wieder lange kauen musste, half ich mit einem Schluck Wasser nach.
Feli lächelte und schob sich endlich den Käse in den Mund. Ihre Miene verzog sich zu einer ulkigen Grimasse. „Schmeckt's?“, fragte ich schelmisch.
„Hhm,“ nuschelt Feli. „Wunderbar...“ Und dann schluckte auch sie angestrengt den Brocken runter. „Ist das Stinkerkäse oder was?“
„Keine Ahnung. Aber meinen esse ich auch nicht auf.“ Ich zupfte wieder am Rest der Brotscheibe. „Wenigstens ist das hier halbwegs genießbar,“ meinte ich und deutete auf das Getreideprodukt.
Feli nickte verstehend. Dann aßen wir beide schweigend an unseren Broten. Kaum dass wir fertig waren, klopfte es an der Tür. Neugierig hob ich den Kopf.
„Wer ist das?“, fragte ich. Im selben Moment kam ich mir dämlich vor.
Feli war bereits aufgestanden und zur Tür gegangen, mir ein freudiges „finden wir es heraus,“ zuflötend.
Und dann ließ sie ernüchtert die Schultern sinken, als nur Koukol im Korridor wartete. Er brachte ein paar unverständliche Worte hervor und gestikulierte mit seinen viel zu großen Armen, so gut es ging. Ich stand auf und stellte mich zu Feli. Der Bucklige trottete los.
„Sollen wir hinterher?“ Feli sah mich fragend an.
Ich starrte auf den Flur. „So wie es aussieht: ja.“
Wir betraten eilig den zwielichtig beleuchteten Gang und schlossen die Tür hinter uns, ehe wir in schnellen Schritten dem Buckligen hinter her hasteten. Nichts wäre schlimmer gewesen, als ihn jetzt aus den Augen zu verlieren.
Zum Glück geschah das nicht. Vielmehr rannte ich fast in den Krüppel hinein, als er unerwartet vor einer riesigen Flügeltür aus dunkler Maserung halt machte. Das Holz war dunkel lackiert und mit Halbrelief verziert. Goldene Linien rahmten die seichten Erhebungen ein. Der Diener schob die rechte Seite mit einem leichten Knarzen auf.
Was sich uns dann offenbarte, raubte mir schlichtweg den Atem.
Vor uns lag ein Raum, der groß genug war, um ein halbes Einfamilienhaus darin zu platzieren. Mit zwei Etagen mindestens. Und zu allen Seiten zweigten Katakomben aus Bücherregalen ab, soweit das Auge reichte. Die Bibliothek! So groß hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Der Graf war eindeutig kein Edward, der nachts schlafende Mädchen beobachtete... Für einen Augenblick stand ich völlig perplex im Türrahmen. Erst als Feli mich anstupste erwachte ich aus meiner Lethargie. Sie deutete mit dem Finger auf eine Sitzecke am linken hinteren Ende des Raumes. Dort, wo keine Regale standen und ein Freiraum geschaffen war, um Sitzmöbel vor einem Kamin zu platzieren.
In diesem knisterte bereits ein Feuer. Der warme Schein tauchte die Ecke in eine unglaubliche Wärme. Vom unsteten Licht beleuchtet erkannte ich außerdem Konturen, die nicht zu dem Sofa passten, das dort platziert war. Doch dass der Graf an einem Feuer hockte interessierte mich gerade nicht. Ich ging geradewegs zu einem der Regale und strich bedächtig mit den Fingern über die Buchrücken. Sie rochen ledrig und nach alten Seiten. Auch wenn sie staubig waren... Es war ein herrliches Gefühl, sie zu berühren. Wie alt sei wohl sein mochten?
Feli war mir vorsichtig hinterher gekommen und holte gerade Luft... wahrscheinlich, um mich an Höflichkeit zu erinnern.
Doch ehe sie etwas sagen konnte, ertönte die sanfte, melodische Stimme des Grafen nicht weit von uns. „Gefallen dir die Bücher? Ich habe wundervolle Werke, von bedeutsamen Autoren. Aristoteles, Kopernikus, Galilei zum Beispiel.“
Ich fuhr nicht zusammen, so wie Feli neben mir. Stattdessen atme ich noch einmal tief durch, nehme den Geruch des Raumes ganz in mir auf.
Feli nestelt nebenbei hörbar am Stoff ihres Kleides. „Entschuldigen Sie, Excellenz,“ meint sie zögernd, die Stimme etwas höher als sonst. „Wir wollten nicht unhöflich sein.“
Unfreiwillig sehe ich doch zu Feli. Excellenz... War das nicht so eine eigentlich unangebrachte Anrede? Wir wussten ja nicht einmal in welcher Zeit wir waren... Und so weit ich mich erinnern konnte, war diese Anrede dem Stand eines Grafen nicht gerade genügend.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Mundwinkel des Grafen amüsiert zuckten. „Nicht doch, Felicitas. Ich war unaufmerksam und habe meine Gäste übersehen, euch trifft keine Schuld.“ Er wirkte größer als sonst, wie er so vor uns stand, ohne Umhang... und so nahe. „Das Kleid steht dir sehr gut, Felicitas. Es unterstreicht deine blauen Augen,“ bemerkte er schließlich nach kurzem Schweigen. Dann spürte ich seinen Blick auf mir lasten. „Laura, dir scheint unwohl in deinem Kleid zu sein. Dabei hat es eine wundervolle Farbe.“
Und ich eine Kurzhaarfrisur, die meinen Hals nicht einmal bedecken kann, dachte ich. Als wenn mich sein Kompliment beruhigen würde. Im Gegenteil, es machte alles noch schlimmer. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und sah seinen Blicken ausweichend auf die Buchrücken. Meine Finger berührten noch immer das kalte Leder. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Armband fehlte. Es war aus silbernen Kettengliedern gewesen, an einem hatte ein schlichtes Kreuz gehangen. Und jetzt war es weg... Verdammt! Das konnte doch nur der Graf gewesen sein!
„Wollen wir uns nicht einen Augenblick setzen,“ schlug dieser schließlich vor, nachdem ich ihn erfolgreich ignoriert hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen verwirrten Blick von Franzi. Anscheinend hatte meine Miene meine plötzliche Entrüstung verraten. Aber was sollte ich auch tun, wenn mir-nichts-dir-nichts mein Armband von einem Vampir gestohlen wurde?
„Dürfte ich... noch etwas weiter in den Regalen stöbern?“, brachte ich schließlich rau hervor. Eigentlich nur, um einem Gespräch mit dem Schlossherrn zu entgehen. Sollte er sich doch mit Feli unterhalten, am Feuer, bei einem Glas Wein.
„Natürlich,“ meinte er. „Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Sicherlich wirst du interessante Lektüre finden.“ Ich ahnte, dass er arrogant lächelte, sah aber nicht zu ihm. „Nun denn, Felicitas. Setzen wir uns doch erst einmal.“ Und dann führte er Feli zu der Sitzecke, während ich tief durchatmete und weiter zwischen den Regalen verschwand.
Viel brauchbares fand ich jedoch nicht. Viele der Bücher waren in brüchigen Einbänden, in kryptischen Zeichen verfasst oder in Sprachen, die ich nicht sprach. Latein, Griechisch, sogar Hyroglyphen fand ich in einem Band. Seufzend ließ ich die Schultern sinken. Etwas historisches zu dieser Zeit wäre schön gewesen. Etwas, an dem man vielleicht ein paar Überlebenschancen festmachen könnte.
„Wirst du fündig?“ Erschrocken fuhr ich herum... und blickte geradewegs einem entspannt in einem Buch blätternden Grafen entgegen. Verdammt, wie lange stand er da schon? Hatte er mich die ganze Zeit über beobachtet? Es schauderte mich bei dem Gedanken. Der Graf als Stalker. Da konnte er sich ja fast Edward nennen. Ob er auch in der Sonne glitzerte?
Ich meinte ein amüsiertes Murmeln zu hören und starrte plötzlich wieder den Grafen an. „Lachen Sie über mich?“, fragte ich gerade heraus.
„Nicht doch. Ich finde es nur sehr spannend, wie du dich in die Bücher vertiefst.“ Er blätterte unbeteiligt eine Seite um. Ich spürte unerwartete Wut in mir aufsteigen. Wollte der mich verarschen? Läuft mir hinterher, stöbert in einem Buch und meint dann, von mir fasziniert zu sein?
Ich ballte meine Hände unwillkürlich zu Fäusten, was mich an mein verschwundenes Armband erinnerte. „Wo ist eigentlich mein Armband?“
Überrascht sah der Graf von seinem Buch auf. „Dein Armband?“
In mir brodelte es inzwischen gewaltig. „Tun Sie nicht so! Ich hatte es gestern Abend noch. Heute ist es weg.“
„Möchtest du mich dafür verantwortlich machen?“ Seine Miene verhärtete sich unangenehm. „Ich habe es nicht nötig, Schmuck zu stehlen.“
Ich verschränkte die Arme ineinander. „Ich habe ich nicht verschwinden lassen,“ halte ich dagegen. „Ihr Koukol hat etwas zu feiste Finger, um mir das Armband abzunehmen. Bleiben also nur Sie als Verdächtiger.“
Er schüttelte sachte den Kopf. „Ich war es nicht,“ beharrte er, klappte das Buch zu und stellte es zurück in das staubige Regal. Dann richtete er seinen Blick auf mich. Durchdringend und kalt. Ich fühlte mich augenblicklich unwohl. „Außerdem,“ fügte er hinzu, „ist 'Sie' keine angemessene Anrede.“
Einen Moment lang sah ich ihn perplex an. Sein Ernst? „Wo ich herkomme, ist 'Sie' sehr angemessen und außerdem auch höflich. Sie sollten also froh sein, dass ich Sie überhaupt sieze.“
Um seinen Mund zuckte ein Gemisch aus Finsternis und Belustigung. „Dann sollte ich mich wohl geehrt fühlen,“ meinte er nüchtern. Etwas am Klang seiner Stimme verbot mir dennoch, ihn weiterhin mit 'Sie' anzusprechen. „Du suchst nach historischen Büchern?“, wechselte er schließlich das Thema.
Mir kam es fast vor, als hätte er meinen Gedanken von vorhin aufgefasst. „Naja, nicht wirklich historisch,“ meinte ich ausweichend. „Eher so etwas in Richtung zeitgenössischer Literatur.“
Er lächelte leicht und kam bestimmt auf mich zu. „Dann komm mit, ich zeig dir, wo du solche Literatur findest...“
In dem Moment hörte ich wieder das Knarzen der Tür, die uns in die Bibliothek geführt hatte. Ich erinnerte mich an Feli und dass der Graf sie zur Sitzecke gebeten hatte. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen stelle ich mir vor, dass sie sich ganz schön vergessen vorgekommen sein musste. Doch irgendwie war sie ja selbst schuld. Sie hätte den Grafen ja beschäftigen können. Dann wäre uns beiden geholfen gewesen…

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