Kapitel 1 - Zwei die sich fanden und verschwanden

232 13 11
                                    


„Darf ich mich zu dir stellen?“
Ich sah von der sprudelnden Apfelschorle in diesem schlank emporragenden Sektglas auf. Die blubbernde Bewegung hatte etwas Hypnotisches an sich. Zumindest konnte es einen effektiv von seiner Umgebung ablenken. Der abwartende und nicht nachlassend erwartungsvolle Blick der jungen Frau mir gegenüber erinnerte mich daran, dass ich ihr noch eine Antwort schuldig war.
„Ja, klar. Kein Problem“, antwortete ich schnell und zeigte mit der Hand auf den Stehtisch, der bisher nur das Gewicht meines Getränks hatte tragen müssen.
„Oh, danke. Ich bin übrigens Feli“, stellte sich die Hellblonde gleich vor. Eigentlich war sie sogar fast Silberblond. Musste eine dieser teuren Haarfarben sein, die nur der Frisör zustande brachte. „Naja, eigentlich Felicitas. Felicitas-Marie. Aber der Name ist schrecklich.“ Sie fuchtelte mit den Händen umher, sodass ich vorsichtshalber mein Glas vom Tisch nahm.
„Freut mich“, ich lächelte. „Laura, leider ohne Doppelname.“ Feli lächelte ebenfalls und nippte an ihrem Sekt. „Du bist ganz schön aufgeregt, was? Bist du zum ersten Mal hier?“, fragte ich, um irgendetwas zu sagen. Nichts war schlimmer als das bedrückende Schweigen unter Fremden. Doch das musste ich bei Feli wohl weniger fürchten.
„Ich? Nein. Nicht zum ersten Mal. Ich hab das Musical schon so oft gesehen. Ich glaub hier schon allein fünf Mal. Zum ersten Mal hab ich's vor vier Jahren gesehen. Meine Tante hatte mich eingeladen, zum 13. Geburtstag. Mann, hab ich mich gefreut. Seitdem bin ich bekennender Fan.“
„Aha“, gab ich von mir und nahm noch einen Schluck. Inzwischen war die Schorle schal geworden. Wie lange hatte ich nochmal in die Bläschen gestarrt?
Felicitas überging mein geringes Interesse. „Und du? Du bist bestimmt auch schon öfter da gewesen.“ In ihren Augen leuchtete Neugierde. Wollte sie das wirklich wissen?
„Ja, ein oder zwei Mal. Ich weiß gar nicht mehr genau“, meinte ich und hoffte, sie würde nicht weiter nachbohren. In dem Moment kramte sie in ihrer großen Handtasche herum. Hellgraues Leder. An den Nähten ein wenig abgewetzt. Trotzdem hübscher als mein schlichter Umhängebeutel aus Stoff.
„Naja, ich bin sicher wir werden Spaß haben“, plapperte sie vor sich hin und erzählte noch irgendetwas von den Darstellern und dem Grund, für ihren heutigen Theater-Besuch. Ich linste derweil wieder in meine Apfelschorle, die nicht mehr sprudelte. Mit einem Zug trank ich den kläglichen Rest aus und platzierte das Glas auf dem Tisch.
Felicitas blätterte in einer Broschüre. „Du sag mal, ist das eigentlich lila oder rot?“ Sie hielt mir das leicht mitgenommene Heft hin und zeigte auf den Umhang des Grafen. „Ich meine, es sieht irgendwie lila aus, aber das wäre für den Grafen doch ziemlich... unpassend, oder nicht?“
„Da ist es lila.“ Ich musterte noch einen Moment die eigentümliche Farbe. Sie war mir bisher noch nicht aufgefallen. Jetzt finde ich sie ein wenig skurril. „Vielleicht hängt das aber auch mit der Produktion zusammen“, mutmaßte ich.
Feli nahm die Broschüre wieder weg und starrte selbst nochmal drauf, dann zuckte sie mit den Schultern und setzte sich ihr Glas an die Lippen. Ich zog mir derweil mein Handy aus der Hosentasche und wollte auf die Uhrzeit schielen, was ich nicht konnte, da mein Telefon bereits ausgestellt war.
„Das Warten vorher ist immer blöd“, meinte Feli und seufzte. Ich musste ihr allerdings Recht geben. Das Warten war nervraubend.
Gerade als ich meine Zustimmung auch verbal äußern wollte ertönte der ersehnte Gong. Die Türen zum Theatersaal wurden geöffnet und die Menschen stürmten herein. Ich lächelte meiner silberblonden Gesprächspartnerin nochmal zu und wünschte ihr viel Spaß, dann ließ ich mich von der Menge mitschleifen.
Auf meinem Sitzplatz angekommen hatte ich dann endlich meine Ruhe und konnte tief durchatmen. Nach dem dritten Gong verdunkelte sich der Saal. Das Murmeln um mich herum erstarb und vor der Bühne versteckt setzte das Orchester ein.

Letztendlich war ich der festen Überzeugung, dass das Musical viel zu schnell vorbei war. Als die Lichter wieder angingen klopfte mein Herz immer noch vom Finale. Auch wenn inzwischen ein wenig Frust aufkam. Morgen würde der Alltag wiederkehren. Und ich konnte nicht sagen, dass es mich zurück in die Schule zog.
Der Sog der Masse brachte mich ebenso aus dem Saal heraus wie zuvor herein. Ich warf ein paar Vampiren auf dem Flur noch den Rest Kleingeld in die Blechbüchse und schließlich stand ich in milder Nacht unter einer Laterne.
Ich seufzte und setzte mich auf die Bank, die an der Bushaltestelle platziert war. Trotz des angekündigten Unwetters war die Luft frisch, aber nicht kalt. Genau richtig, um durch zu atmen und wach zu bleiben. Und um das leiser werdende Murmeln um sich herum zu genießen, sobald sich die Traube von Menschen löste.
Wobei ich die Rechnung ohne ein silberblondes Mädchen gemacht hatte. „Hey, wartest du auch auf den Bus?“, fragte sie und platzierte sich neben mich. Ich nickte und starrte die Straße herunter. „Cool, dann können wir ja nebeneinander sitzen.“
„Ja, können wir machen“, murmelte ich und zupfte an einer Strähne meiner kurzen braunen Haare.
„Da kommt er ja schon.“ Felicitas stand auf und stellte sich an den Rand des Bürgersteiges. Ich folgte ihr. Inzwischen fühlte ich doch wie meine Lider vor Müdigkeit schwerer wurden. Wir stiegen ein, als das blau-weiße Ungetüm quietschend vor uns gehalten hatte und ich zeigte mein Fahrticket. Außer uns fuhren noch ein älterer Herr und eine Mutter mit Kind mit, die sich in die hinteren Reihen verkrochen hatten. Feli suchte uns einen Platz weiter vorne und rutschte zum Fenster durch.
„Hach, das war eine tolle Vorstellung“, fing sie gleich zu schwärmen an. „Der Graf war einfach klasse! Hast du seine Zähne gesehen? Wie kann man mit den Dingern nur singen?“
„Ich glaube, die üben das vorher.“
„Ja, das weiß ich. Aber trotzdem. Und wie er Sarah in den Schlaf gesungen hat... Findest du nicht auch, dass die Vampire im Musical total toll sind?“
„Ja, richtig nette Typen. Vor allem die auf dem Friedhof“, erwiderte ich und rieb mir über die Augen. Als meine Hände zurück auf meinen Schoß sanken fiel mir erst auf, dass Feli Hotpants trugt. „Sag mal, ist dir nicht kalt?“
Sie sah mich einen Augenblick etwas ratlos an, dann folgte sie meinem Blick und schüttelte den Kopf. „Ach, nein. Mir ist eigentlich selten kalt. Außerdem bin ich ja gleich zuhause.“
Ich nickte verstehend, dann wurde es still. Jetzt setzte das beklommene Schweigen doch noch ein. Vielleicht hätte ich mich doch von meinem Bruder abholen lassen sollen.
Der ältere Herr von hinten räusperte sich und Feli musterte ihr Spiegelbild im Fenster. Bis sie anfing zu lachen und zu mir sah. „Hast du den Versinger auch mitbekommen?“
Ich schmunzelte unwillkürlich. „Na klar, der war das Beste am ganzen Abend.“ Vielleicht nicht das Beste, denn das war immer noch das Finale. Aber der kleine Textfehler vom Grafen hatte für Erheiterung unter den Zuschauern gesorgt.
„Bis deine Sehnsucht eine Frau aus mir macht“, zitierte Feli und versuchte die Melodie zu imitieren. „Wie gut die so Patzer überspielen können...“
„Die können's einfach“, versuchte ich einem Statement zu entkommen und hielt mir gähnend eine Hand vor den Mund.
„Ich würde ja so gerne mal als Sarah da auf der Bühne stehen.“
Ich sah zu Feli herüber, die verträumt auf die vorbeiziehenden Straßenlaternen starrte. „Damit du von ihm umgarnt und ausgesaugt wirst? Hm... Ich weiß nicht.“
„Sterben will ich nicht. Aber irgendwie hätte das was. Irgendwie... Ich weiß auch nicht.“
Ich erwiderte nichts mehr, weil ich keinen Reiz an diesem Thema fand. Außerdem hielt gerade der Bus. Ich sah über die Schulter zu den anderen Insassen, die jedoch keine Anstalten machten, auszusteigen. „Hey, Mädchen. Hier ist Endstation für euch. Kommt gleich 'nen anderer Bus, der bringt euch weiter. Ist ne Bahnverbindung ausgefallen, Ersatzverkehr“, raunte uns der Busfahrer entgegen. Ich stand auf und zog Felicitas mehr oder weniger mit mir. Sie war immer noch ganz verträumt. Versteh einer die Fangirls.
„Gut, dann warten wir jetzt“, meinte ich draußen angekommen und lehnte mich an das angerostete Gestell der Haltestelle. Eine alte Laterne spendete gelb flackerndes Licht. Das Haltestellenschild war verbogen. Die Häuser um uns herum sahen heruntergekommen aus, mit grauen Wänden und leeren Fenstern. Überhaupt war niemand sonst hier draußen. Ich war gerade dabei mich zu fragen, warum, als über uns ein unfreundlich lautes Grollen ertönte.
„Scheiße, das Unwetter!“, platzte Feli heraus und sah mit großen Augen zum Himmel.
„Sag bloß du hast die Unwetterwarnungen nicht gehört...“
„Gehört ja... Nur nicht dran gedacht. Scheiße.“ Sie kam zu mir und stellte sich mit unter das Wellblechdach. „Laura, ich hab Angst.“
„Wegen ein bisschen Donner?“ Ich sah sie mit gerunzelter Stirn an, als es über uns nochmal krachte, lauter als vorher. Dann fielen erste schwere Regentropfen auf das Dach.
„Wegen Gewitter. Da gehören auch Blitze zu.“ Ich bemerkte wie Felicitas zitterte. Wie sie da so stand wie ein begossener Pudel, tat sie mir leid.
„Hey, keine Sorge. Wir kommen schon noch heil nach Hause, der Bus wird ja auch gleich da sein.“ Ich lächelte ihr schief zu und sah in den Regen, der gemächlich trommelnd über und vor uns zu Boden kam. Für einen Moment wurde es taghell, grau-blaues Licht zuckte fluoreszierend zwischen dicken Wolkenbergen. Feli verkroch sich an die Wand des Blechgestells.
Keine zwei Sekunden später hallte die Straße von vibrierendem Donner wider. Jetzt wurde auch mir mulmig. Mir fiel ein, dass Blitze von elektrischen Leitern angelockt wurden. Und dass wir uns inmitten eines solchen befanden. „Felicitas... Komm da raus, wir müssen von der Haltestelle weg!“
Der Lärm des Regens übertönte fast meine Worte. „Hier raus? Spinnst du! Wir werden doch klitsch nass!“ Feli zeigte mir einen Vogel.
„Komm da raus, verdammt! Das Ding ist aus Blech! Das leitet den Strom!“ Ich ging zu ihr und packte sie am Arm. Doch Feli schlug meine Hand weg. „Jetzt komm endlich! Wenn hier ein Blitz einschlägt...“
Und in dem Moment sah ich grelles Licht vom Himmel herunter rasen, Funken am verkrümmten Schild und grellblaue Elektrizität. Feli schrie.
Und dann wurde alles schwarz.

Nur langsam fing mein Hirn wieder an, seine Arbeit zu tun. Ich fühlte mich benommen, matt und wehrlos. Mir war kalt. Ich war nass. Und meine Muskeln schmerzten, als hätte ich zu viel Sport gemacht. Noch benebelt versuchte ich zu blinzeln. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken, ich erkannte nicht viel. Mein Hals kratzte und ich hustete. Erst jetzt stach mir Kälte in den Nacken.
Ich fuhr auf, hustete nochmals. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken, als Schnee von meinem Nacken rieselte.
Moment.
Schnee?
Verwirrt und überfordert sah ich mich um. Weiß. Links von mir. Rechts von mir. Vor mir. Weiß. Einfach nur weiß. Und jemand in Hotpants und Sneakers. Mit Lederhandtasche.
Ich rappelte mich auf und blieb einen Augenblick stehen, bis die dunklen Flecken vor den Augen verschwunden waren. Dann stolperte ich zu Feli. Sie lag auf dem Rücken. Wie ich bis eben. Mit von sich gestreckten Armen und Beinen. Zögernd rüttelte ich an ihrer Schulter. „Felicitas?“
Sie bewegte sich nicht, ich rüttelte stärker. „Felicitas? Feli!“ Als sich immer noch nichts regte nahm ich eine handvoll Schnee und warf sie ihr ins Gesicht.
Endlich fuhr auch die braungebrannte Blondine hoch und hustete sich fast die Seele aus dem Leib. Ich strich ihr über den Rücken. „Alles ok bei dir?“
„Äh... ja. Glaube schon.“ Sie stand ebenfalls auf und klopfte sich den Schnee von den Klamotten. „Was zum Geier ist passiert?“
„Keine Ahnung“, gestand ich ehrlicher Weise. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was überhaupt los war und wo wir waren. Nur eines wusste ich: Hier war nicht die Haltestelle. Stattdessen prangte hinter uns ein riesiger, kohlschwarzer Baum, der nicht mehr sehr lebendig wirkte.
„Boah, ist das kalt“, beschwerte sich Feli. „Wo sind wir denn bitte gelandet?“
„Nun, da ist ein Baum, dort ist einer und da sind noch mehr.“ Ich ließ meine Hand in einer ausschweifenden Geste kreisen. „Ich glaube das hier ist ein Wald.“
„Ja, ach nee. Und jetzt?“
„Unterschlupf suchen, und zwar bevor wir erfrieren“, schlug ich vor und rieb mir selbst über die Arme. „Vielleicht finden wir ja die Haltestelle wieder.“ Ich deutete mit einem Nicken in eine Richtung. Vielleicht war das ja nur so ein dämlicher Kälteeinbruch. The day after tomorrow, oder so. Wäre mir jedenfalls Recht gewesen. Aber leider war dem nicht so, wie wir feststellen mussten...

Zukunft ist VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt