Kapitel 19 - Kein Mann großer Reden

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Es war zum Verrückt werden! Drehten denn jetzt alle am Rad? Was war das von Laura für eine selten dämliche Reaktion gewesen? Warum wollte sie nicht mittanzen? Und warum war der Graf so völlig abrupt davon gerauscht?
Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen, ließ für den Moment meine Schultern hängen und seufzte. Wie sollte man aus den Leuten schlau werden, wenn sie sich nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar verhielten?
Tief durchatmend hob ich meinen Blick wieder. Vor mir standen noch immer die herunterbrennenden Kerzen, deren Wachs in dicken Tropfen an ihrem Schaft herunter lief. Der leere Teller vor mir wirkte genauso verlassen wie ich mich fühlte. Irgendwie fehl am Platz. In diesem großen Raum von Speisesaal war man alleine nun einmal doch recht verloren.
Da ich mir aber den Tag – oder besser den Abend – nicht verderben lassen und einer Einladung folgen wollte, nahm ich noch einen Schluck von dem heute servierten Wasser. Dann raffte ich die Röcke und stand auf. Die Kerzen löschte ich der Sicherheit halber, nicht dass sie noch das Schloss in Brand setzten.
Schließlich fand ich mich auf der Treppe zum nächsten Stockwerk wieder. Hier hatte der Graf vor einiger Zeit noch mit seinem Umhang zu kämpfen gehabt. Ich fragte mich, ob das der Zeitpunkt gewesen war, an dem alles so unheimlich kompliziert geworden ist. In der Nacht hatte der Graf mich zu sich ins Kaminzimmer eingeladen. Ich erinnerte mich schon nicht mehr daran, über was wir geredet hatten. Ich wusste nur, dass ich am nächsten Tag in meinem Bett aufgewacht war. Und dass er mich zum Ball eingeladen hatte.
Schmunzelnd und mit einer prickelnden Erwartung im Bauch ging ich weiter. Doch statt am oberen Ende der Treppe in Richtung meines Zimmers ab zu biegen stieg ich noch höher. Wie gut, dass mir eine Führung durch das Schloss zuteil geworden war. So wusste ich genau, wo ich hin wollte.
Die seltsamen, dämonenhaften Grimassen, die mich aus den Nischen her anstarrten störten mich nicht einmal wirklich. Im Halbdunkel des nur spärlich beleuchteten Ganges flackerten dunkle Schatten um ihre Gesichter. Sie wirkten fast schon lebendig, gierig. Doch mehr als einen flüchtigen Blick hatte ich für sie nicht übrig.
Erst vor einer bestimmten der vielen Türen hielt ich inne und lächelte versonnen. Nachdem ich angeklopft hatte, trat ich einen Schritt zurück und wartete. Kaum später wurde mir auch schon geöffnet. „Feli! Wie schön, dich zu sehen! Komm doch rein.“
Ich lächelte Herbert mit einem Hauch unerwarteter Schüchternheit entgegen. „Gerne, gerne,“ antwortete ich und folgte seiner einladenden Geste. Im Zimmer angekommen wurde ich von einem überaus angenehmen Geruch empfangen. Ich schätzte, es waren Lavendelzweige mit einigen Waldkräutern. Kamille vielleicht und Behrlauch.
„Setz dich, meine Liebe,“ bot er mir an. Ich nickte und setzte mich auf einen der drei Sessel in seinem Gemach, die direkt vor einer idyllischen Feuerstelle standen. An der Wand links vom Kamin waren mehrere Bücherregale platziert. Auf dem Tischchen zwischen den Sesseln lag ein ledergebundenes Buch mit Lesezeichen zwischen den Seiten. „Was kann ich für dich tun?“ Herbert kam aus einem der angrenzenden Zimmer zurück, eine Büste in der Hand, mit der er seine langen hellen Haare verwöhnte.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er aus dem Raum gegangen war. „Nachher ist ja der Ball… Und da wollte ich fragen, ob du mir vielleicht mit dem Styling helfen kannst.“ Ich sah hoffnungsvoll zu ihm, während er sich gemütlich setzte und die Beine überschlug.
„So, da bist du natürlich an der richtigen Adresse.“ Herbert grinste breit, nahm eine Strähne zwischen die Finger, inspizierte sie auf Sauberkeit und Glanz und bürstete noch einmal drüber. „Was hast du dir denn so vorgestellt?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß gar nicht so genau. Ich wollte auf jeden Fall eine Hochsteckfrisur und eher dezentes Make-up.“
„Make-up?“ Verwundert sah der Vampir mich an.
Ich musste schmunzeln. „So nenne ich die Schminke.“
„Ah, das ist natürlich auch… interessant.“ Für einen Moment sah er gedankenverloren ins Feuer, dann zuckte er kopfschüttelnd mit den Schultern. „Es ist schon interessant, wie sich die Sprache im Laufe der Zeit so entwickelt. Man muss sich immer wieder an andere neumodische Wörter gewöhnen.“ Er lächelte mir sanft zu, als er die Bürste aus der Hand legte. „Hast du eigentlich schon einen Farbwunsch für dein Kleid?“
Ich verzog die Lippen zu einer Schnute. „Noch nicht so richtig. Es sollte nichts allzu dunkles sein. Immerhin will ich ja zu keiner Trauerfeier gehen.“
„Möchtest du denn eher kräftige oder eher blasse Farben?“
„Blasse. Nicht dass ich noch als schreiend bunter Farbtopf auftrete. Lieber so etwas in Richtung lachsfarben oder zartgold.“
Er nickte zustimmend. „Ja, Zartgold wäre eine passende Farbe. Sie würde mit deinen Haaren und deinem Teint harmonieren. Ja, doch. Ich bin für Zartgold.“ Einen Augenblick sah er mich grübelnd an, dann stand er auf. „Einen Moment, ich schau mal, was sich finden lässt.“
Und so verschwand er wieder durch die Tür, aus der er vorhin gekommen war. Ich blieb in meinem Sessel sitzen und betrachtete meine Finger. Wobei mein Blick jedoch an jenen vorbei glitt und auf dem Buch liegen blieb, das nach wie vor den Beistelltisch schmückte.
Neugierig streckte ich meine Hand danach aus und zog es zu mir herüber. Für seine eher kleine Optik lag es ungewöhnlich schwer in der Hand. Als ich es aufschlug erkannte ich auch, warum. Die erste Hälfte bestand gar nicht aus Papier, sondern wurde nur in jener Optik gefertigt. Statt Buchstaben wartete jedoch ein kleines Kästchen im Inneren. Ich überlegte einen Moment, ob ich es öffnen sollte, doch die Neugierde überwog den Zweifel. Also schob ich den kleinen Riegel zur Seite, der die Klappe verschloss und öffnete sie.
Der Innenraum der versteckten Schachtel war mit weichem, blauem Samt ausgestattet, an dessen Rand goldene Ranken eingestickt waren. In ihr drin lag ein goldenes, ovales Ding, dessen Äußeres mit verschnörkelten Gravuren verziert war. Als ich mit den Fingern drüber strich fühlte es sich kalt und alt an. An der längeren Kante spürte ich eine kleine Unebenheit. Ich strich über sie. Anscheinend übte ich ein wenig Druck auf sie aus, denn ein leises Klicken erklang und der Gegenstand öffnete sich einen kleinen Spalt. Ich hob das obere Teil ein wenig an und spähte in den Innenraum. Von dem Bild, das sich mir dort offenbarte, war ich so gebannt, dass ich gar nicht bemerkte, wie Herbert zurück kehrte.
„Ein Bild meiner Mutter. Das einzige, das von einem Brand im Nordturm vor einigen Jahren übrig geblieben ist. Ich habe es damals selbst gemalt, kurze Zeit bevor sie dieses Fieber bekommen hatte.“
Ertappt sah ich auf und versuchte Das Buch unter meinen Händen zu verstecken. „Tut mir leid, ich wollte nicht schnüffeln! Wenn ich dir damit zu nahe trete…“
„Ist schon gut,“ winkte Herbert ab. In diesem Augenblick sah er furchtbar traurig und müde aus. „Ich betrachte das Bild jeden Morgen. Es gibt mir Kraft und Zuversicht. Und es erinnert mich an Zeiten, in denen das Leben noch weit mehr Farben als heute für dieses Schloss übrig hatte.“
Ich sah noch einmal herab auf das Buch und den kleinen Schatz, den es barg. Dann schloss ich den goldenen Anhänger und die geheime Schatulle wieder und schlug das Buch zu, ehe ich es zurück auf den Tisch legte. „Tut mir leid – das mit deiner Mutter.“
„Muss es nicht. Man gewöhnt sich mit der Zeit an die Leere und lernt, mit ihr zu leben. Vergessen kann man den Verlust trotzdem nicht.“ Ich nickte, doch ehe ich etwas erwidern konnte, legte Herbert mir eine Hand auf die Schulter. „Aber wollen wir uns den Abend nicht trüben. Hier, ich habe ein Kleid mitgebracht. Es dürfte deinen Vorstellungen entsprechen.“
Ich sah zu ihm auf – und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Völlig überwältigt stand ich auf und betrachtete den Stoff auf Herberts Arm. Feinste Seide mit Brokat und Spitze verziert. Der Rock war in großen Falten gelegt, während für den Oberkörper ein Korsett benötigt wurde, das Herbert bereits auf seinen Sessel platziert hatte.
„Gefällt es dir?“
„Es ist wundervoll!“, rief ich entzückt. Meine Augen mussten vor Begeisterung funkeln, denn Herbert schmunzelte zufrieden.
„Darf ich dir beim Anziehen helfen?“ Er deutete auf den Sessel. „Nun guck nicht so, du weißt doch – ich habe kein sonderliches Interesse an Frauen.“ Er zwinkerte mir zu. Wohl war mir bei der Angelegenheit nicht, musste ich mich doch meiner Bekleidung entledigen, um das Korsett anlegen zu können. Doch andererseits… Alleine würde ich es nicht schaffen. Also nickte ich zaghaft. „Gut, ich bereite dann schon einmal die Schminke vor, während du dich ausziehst und das Korsett so weit du kannst anlegst. Wenn du so weit bist rufst du nach mir, in Ordnung?“
Ich nickte wieder, erleichtert darüber, dass ich mich nicht vor ihm ausziehen musste. Immerhin war und blieb er ein unausgesprochen attraktiver Mann. Nun – da war er ganz der Vater.
Herbert verabschiedete sich mit einem Lächeln und ließ mich vor dem Kamin zurück, wo ich mühsam versuchte, die Schmetterlinge in meinem Bauch zu zähmen, die der Gedanke an den Grafen hervorgerufen hatte. Glücklicherweise verschaffte mir die bevorstehende Aufgabe einiges an Abwechslung, war es schon nicht leicht mich aus meinem Kleid zu pellen und mir schließlich das Korsett halbwegs anzuziehen. Schließlich war ich aber doch noch so weit, dass ich nach Herbert rufen konnte.
Der kam sofort von nebenan zurück. „Und, wie ist es?“, fragte er mich schon von weitem.
„Eng. Sehr eng.“
„Jetzt schon? Nun, meine Liebe Felicitas, ich werde das Korsett noch um einiges enger schnüren müssen, wenn du dieses Kleid anziehen möchtest.“
„Was tut man nicht alles für die Schönheit,“ seufzte ich und signalisierte Herbert mit einem Nicken, dass er sich an die Arbeit machen konnte.
Ich spürte seine kühlen Hände an meinem Rücken. Sobald er die Enden der Kordeln zu fassen bekam zog er auch schon an. Mir entfleuchte die Luft aus den Lungen, doch ich ließ ihn machen. Er hatte da mehr Ahnung von als ich – abstruser Weise.
„Wie wird das heute Abend eigentlich ablaufen?“, fragte ich anstelle eines Protests.
Herbert nestelte weiter unverändert an den Schnüren. „Nun, ich werde nachher noch einmal zu meinem Vater gehen und die restlichen letzten Vorbereitungen treffen – für die Zeit werde ich dich noch einmal alleine lassen müssen.“ Er zog noch einmal an und ich japste nach Luft. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Jedenfalls werde ich dich dann gegen 11.30 Uhr abholen und zum Ballsaal führen. Dort wird Vater punkt Mitternacht eine kleine Rede an die Gäste richten. Anschließend werde ich dich ihm als Ehrengast übergeben, um die Veranstaltung mit einem Tanz zu eröffnen.“
„Ein Eröffnungstanz?“ Meine Stimme wurde mit zunehmender Enge des Korsetts immer dünner.
„Keine Sorge. Es ist ein einfacher Tanz mit traditioneller Melodie. Lass dich einfach von Vater führen, er ist ein ausgezeichneter Tänzer.“
Ich hörte aus Herberts Worten, dass er lächelte. Doch eigentlich hatte ich gar keinen Sinn dafür. Denn mein Magen krampfte sich zusätzlich zum ohnehin schon entstandenen Druck zusammen. Der Tanz mit dem Grafen… er war ein ausgezeichneter Tänzer… Überwältigende Vorfreude ergriff mich, zusammen mit einer unerwarteten Unsicherheit. Würde ich neben dem Grafen eine akzeptable Erscheinung bieten? Würde ich ihn auch nicht enttäuschen?
„So, das war es erst einmal, was das Korsett betrifft“, unterbrach Herbert meine Gedanken. „Dann wollen wir dir mal das Kleid überziehen.“
Ein Unterfangen, das sich als schwieriger als erwartet heraus stellte. Durch das Korsett glich meine Beweglichkeit der eines toten Hamsters. Nur mit allergrößter Mühe und dank Herberts körperlicher Größe bekamen wir den schweren Stoff über meine hoch gestreckten Arme gestülpt. Es letztendlich zurecht zu zupfen und die restlichen Schnüre zu schließen war tatsächlich die einfachste Arbeit des Abends.
Schließlich führte mich der Erbgraf in das angrenzende Zimmer, in das er zuvor mehrmals verschwunden war. Was dort auf mich wartete, war ein riesiges Schlafzimmer mit einem weiteren Kamin, einigen unglaublich großen Kleiderschränken und einer gut ausgestatteten Schmink-Ecke. Meine Augen mussten so groß sein, dass sie mir fast aus dem Kopf hätten fallen können, denn Herbert schmunzelte neben mir amüsiert.
„Ich habe reichlich Freizeit und Muße, die ich irgendwohin stecken muss. Also investiere ich mein Geld in Mode und Kosmetik. – Und Musik natürlich“, erklärte er, während er mich zum kosmetischen Teil des Raumes brachte.
„Aber… Wozu brauchst du das denn alles? Ich meine, klar, du schminkst dich. Und wofür man Musik braucht verstehe ich auch – ich liebe Musik ja selber. Aber wozu die Kleider? Die kannst du doch gar nicht anziehen.“ Ich ließ mich von ihm auf den Stuhl vor einem großen trüben Spiegel setzen. Mein Abbild sah darin grau und bleich aus. Irgendwie… alt. Das Bild ließ mich erschaudern.
„Wie gesagt, ich habe so einen Hang zur Mode. Ich trage die Stücke selbst nicht, aber ich schaue sie gerne an. Die armen Exemplare, die in meinen Schränken keinen Platz mehr finden landen leider in den weniger gut gepflegten Schränken der Gästezimmer. Zu meinem Bedauern hat Vater nämlich nicht diese modischen Interessen. Ihr werdet ja sicher schon bemerkt haben, dass viele Stoffe bereits angefressen und verstaubt sind.“ Herbert öffnete eine der Schubladen in der nebenstehenden Kommode und beförderte eine weitere Bürste ans Kerzenlicht, mit der er meine Haare zu zähmen begann.
„Ja, das stimmt. In den Schränken waren viele wundervolle Kleider, aber ein Großteil von ihnen war wirklich sehr verstaubt. Laura hatte sogar das Pech, dass die Motten immer die Kleider zerfressen haben, die sie anziehen wollte.“ Zwar hatte Laura das darauf geschoben, dass der Kleiderschrank etwas gegen sie hatte, doch im Grunde traf es das Problem auf den Punkt. „Aber warum soll der Graf daran Schuld sein?“
Herbert kämpfte indes wagemutig mit meinen lange nicht mehr ausreichend gepflegten Strähnen. „Nun ja, wie gesagt: Er interessiert sich nicht sonderlich für diese Moden. Für ihn ist das nur unnützer Kostenaufwand. Also ist es ihm nur Recht, wenn die Stoffe in den Schränken verrotten und Koukol sie letztendlich entsorgt. Dann muss er sie nicht mehr aufbewahren und sie nehmen keinen Platz mehr weg. Ich versuche ja noch so viele Kleider wie möglich vor diesem Verfall zu bewahren, doch das Schloss ist groß genug, dass mir eben dies nicht gelingt. Man kann nun einmal nicht überall gleichzeitig sein.“
„Das stimmt“, entgegnete ich schlicht, da ich einige Male die Luft scharf einziehen musste, so sehr ziepte das Ausbürsten der Kletten.
„Ich wünsche mir nur manchmal, Vater hätte mehr Verständnis für meine Interessen. Er hat ja selbst eine weitreichende Bibliothek und investiert jedes Jahr in die bedeutsamen Neuerscheinungen.“
Ich murmelte ihm verstehend zu, während ich versuchte, mein Spiegelbild vor mir zu ignorieren. „Hast du schon einmal überlegt, dir mit deinem Vater ein gemeinsames Hobby – also gemeinsame Interessen zu suchen. Oder besser: gemeinsame Interessen zu finden?“
Herbert bürstete die letzte Strähne zu neuem Glanz, ehe er die Bürste beiseite legte und sich aus der Schublade einige Klammern und Spangen heraussuchte. „Ich glaube das hätte wenige Aussichten.“ Er kramte noch nach einem dünnen Kamm. Als er ihn gefunden hatte, machte er sich an meine Frisur. „Du wolltest eine Hochsteckfrisur, nicht wahr?“
Ich erwartete, dass er mich durch den Spiegel fragend ansah, doch statt Herbert sah ich nur den Hintergrund des Zimmers – die vielen Kleiderschränke und eine Art kleiner Flügel in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, was ich völlig verdrängt hatte. In Herberts Gegenwart fühlte ich mich einfach nicht mehr wie auf einem Schloss von Vampiren gefangen.
„Ja, eine Hochsteckfrisur“, bestätigte ich ihn über die Schulter hinweg. Er lächelte mir zuversichtlich zu, ehe er einige meiner Strähnen anhob, die wie von Zauberhand vor meinen Augen schwebten.
„Wie wäre es, wenn wir nur einen Teil hochstecken und den Rest hübsch arrangiert herunterragen lassen?“ Ich wusste, dass Herbert jetzt den Kopf schief legen würde. Das tat er immer, wenn er eine Frage stellte. Und ich musste schmunzeln, weil ich den Spiegel dafür gar nicht brauchte.
„Weißt du was? Ich lasse dir da freie Hand. Probier was Hübsches aus, ich vertraue auf deinen Geschmack.“ Ich zwinkerte ihm zu.
Er lachte schelmisch auf. „Du weißt, dass du dich gerade meiner höllischen Kreativität auslieferst?“
Ich lachte ebenfalls, dann begann Herbert auch schon sein Werk. Da ich jedoch eine entstehende Stille vermeiden wollte, griff ich das vorherige Thema noch einmal auf. „Warum meinst du eigentlich hätten die wenige Aussichten? – Die gemeinsamen Interessen meine ich.“
„Das ist ein wenig kompliziert, vermute ich. Vater hatte Mutter sehr geliebt, auch wenn sich diese Liebe eigentlich erst nach ihrer Hochzeit entwickelt hatte. Nachdem Mutter dann aber gestorben war, hatte er versucht mich zu vermählen. Ich vermute, er hatte gehofft, dass Mutter in mir und meinen Kindern weiterleben würde. Ich wollte ihn nicht enttäuschen, doch ich konnte auch keine Ehe mit einer Frau eingehen. Als ich ihm meine Neigungen gebeichtet habe, war er sehr bestürzt. Für ihn ist die größte seiner Hoffnungen zu Bruch gegangen. Ich glaube, darüber ist er bis heute nicht hinweg gekommen.“
„Aber du liebst deinen Vater doch, oder nicht?“
„Natürlich! Ich bin so unsagbar froh, dass er da ist. Ich könnte nicht ohne ihn hier leben. Er ist der Einzige, der die Zeit hier erträglich werden lässt. Nur lässt er mich seit jeher nicht mehr wirklich an sich ran. Da ist immer diese Distanz, die mich fast wahnsinnig macht.“
Ich nickte verstehend und mitfühlend. „Ich glaube ich kann nachvollziehen, was du meinst. Hast du denn mal versucht, mit deinem Vater zu reden?“
„Vater und reden? Du machst ja Witze! Er ist kein Mann der großen Reden, er ist eher einer der Taten. Natürlich versteht er sich darauf, seinen Willen auch mit Worten zu formulieren und durchzusetzen. Aber er ist kein großer Künstler des Zuhörens. Ich glaube nicht, dass er mir Gehör schenken würde.“
„Hast du es denn schon versucht?“
„Nein, das habe ich nicht. Ich möchte ihn nicht noch mehr enttäuschen.“ Herbert steckte einige der sortierten Strähnen fest. Das Haar in meinem Nacken lichtete sich. Stattdessen wand es sich nun zu künstlichen Kringeln auf meinem Kopf.
„Ich glaube nicht, dass du ihn enttäuschen würdest, wenn du dich ihm erklärst“, ermutigte ich ihn weiter. Es wurmte mich, dass Herbert gegenüber nicht die Frohnatur sein konnte, die er gegenüber mir war.
„Ich weiß nicht. Er ist in der Hinsicht sehr eigen.“
„Ja, das kenne ich. Er kann wirklich seltsam sein. Das haben Laura und ich auch schon erfahren dürfen.“ Ich lächelte halbherzig bei dem Gedanken an ‚Gangnam Style’. Zum Glück war mein Handy inzwischen alle, so konnten mir weitere Peinlichkeiten erspart bleiben.
Herbert kicherte hinter mir. „Das glaube ich dir gerne. Ich habe dieses… Gerät, wenn ich es so nennen darf, selbst auf der Treppe noch gehört.“
Auf der Treppe? Dann war es wirklich weit zu hören gewesen! Immerhin waren die Treppen nicht allzu nah an jenem Kaminzimmer gelegen. Eigentlich lag das Zimmer sogar am Ende des Korridors. „Entschuldigung, ich wollte nicht für Unruhe sorgen.“
„Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen.“ Herbert griff noch einmal in die Schublade und kramte erneut ein paar Haarsprangen heraus. Unter ihnen waren sogar einige mit aufgenähten hellen Stoffrosen. „Ich bin froh, wenn es hier wieder ein wenig lebendiger ist. Die Gemäuer sind meistens ruhig und verlassen. Die Einsamkeit liegt oft schwer in der Luft und trübt das Gemüt. Ich würde daran gerne etwas ändern… doch Vater…“ Er seufzte.
„Ihr oft derselben Meinung, oder?“
„Nein, nicht wirklich. Und trotzdem würden wir es ohne einander nicht aushalten.“ Er steckte die letzte Rose fest, dann legte er die Hände zufrieden auf meine Schultern. „So, fertig. Wie gefällt es dir?“
Ich drehte meinen Kopf zu allen Seiten und begutachtete das Ergebnis. Zu sagen, ich wäre überwältigt, hätte meinen Zustand nicht im Geringsten erfassen können. „Es ist wundervoll! Danke, Herbert!“ Komplett instinktiv stand ich auf, drehte mich um und fiel dem Vampir um den Hals.
Bis jener mich vorsichtig aber bestimmt wieder von sich schob. „Feli, ich freue mich über deine Begeisterung. Aber etwas weniger Euphorie wäre vielleicht gesünder für dich“, erklärte er matt lächelnd.
Ich trat sofort einen Schritt zurück. „Oh, Entschuldigung. Daran habe ich nicht gedacht.“
„Halb so wild“, winkte er ab. „Wollen wir dich jetzt schminken?“
Ich nickte eifrig, platzierte mich auf Herberts Handzeichen hin wieder auf dem Stuhl und ließ mich von ihm verschönern. In dieser Zeit schwiegen wir beide. Er war hoch konzentriert, ich wollte ihn in seiner Arbeit nicht stören. Eine halbe Stunde später war auch diese Hürde genommen.
Noch während ich sprachlos mein neues Ich betrachtete, wandte sich Herbert zum gehen. „Ich werde mich jetzt selbst erst einmal zurückziehen und die letzten Vorbereitungen treffen. Soll ich dich später hier abholen?“
Ich wandte mich nur zögernd von meinem Abbild ab. „Ich wollte noch einmal zu Laura gehen, wenn das in Ordnung ist.“ Bittend sah ich ihm entgegen.
Doch er lächelte nur milde und nickte. „Natürlich. Dann hole ich dich bei Laura ab. Bis später. Und pass auf, dass dein – wie nanntest du es? – Make-up nicht verwischt.“
Ich schmunzelte. „Mach ich. Bis später.“ Dann war er auch schon aus der Tür und ich schon wieder von meinem Spiegelbild gefesselt.
Bis ich durch den Spiegel an der Wand hinter mir eine Standuhr erblickte, deren Zeiger bereits verdammt nah an 10.00 Uhr standen. Eilig raffte ich die Röcke, verließ Herberts Gemächer und nahm den Weg über die Treppe ins nächst tiefere Geschoss. Dort angekommen ging ich in mein Zimmer, schloss vorsichtig die Tür und schielte zu jener hinüber, die Lauras und mein Zimmer verband. Sollte ich tatsächlich anklopfen?
Letztendlich schlich ich so leise wie möglich auf den zum Kleid zugehörigen Schuhen an die Tür, legte mein Ohr an das Holz und lauschte. Drüben war es still. Zögerlich hob ich meine Hand. Sollte ich es wirklich tun? Wollte Laura überhaupt meine Gesellschaft? Sie meinte ja vorhin beim Essen, sie bräuchte ihre Ruhe. Doch andererseits würde ich an ihrer Stelle jetzt auch nicht allein sein wollen…
Ich klopfte schließlich doch zaghaft an. Wider Erwaten konnte ich sogar ein wenig enthusiastisches ‚Herein’ hören.
Ich öffnete die Tür. „Hey“, gab ich einen obligatorischen Gruß von mir während ich meinen Kopf durch den Türspalt schob. „Darf ich rein kommen?“
„Ja“, murmelte Laura. Sie lag flach auf dem Rücken auf ihrem Himmelbett, alle viere von sich gestreckt.
„Ist alles okay bei dir?“, fragte ich, während ich eintrat und zu ihr ging. Bei ihr angekommen setzte ich mich auf die Bettkante.
„Hm… Nicht so wirklich. Mir ist das irgendwie grade alles zu viel. Ich will das alles eigentlich nur noch vergessen und zurück nach Hause.“ Sie starrte an die Decke ihres Bettes, wobei eindeutig Tränen in ihren Augenwinkeln funkelten.
„Ich weiß. Ich will auch nach Hause“, seufzte ich.
„Aber du wirst zum Ball gehen.“ Laura sieht mich fragend aus trübem Blick an.
„Ja. Der Graf hat mich eingeladen. Er wird mit mir tanzen. Ich habe mir so lange diesen Augenblick herbei gesehnt – auch wenn es vielleicht dumm ist, ich kann nicht absagen.“ Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern. Irgendwie hatte ich ja schon ein wenig Angst vor nachher. Doch andererseits war da auch die pure Vorfreude, diese absolut positive Erwartung in mir. Ich würde mit dem Grafen tanzen. Ich würde ihm nahe sein, mich mit ihm elegant zum Rhythmus der Musik bewegen… Welche Frau wollte das nicht?
Laura musste bemerkt haben, wie sehr ich mich freute, denn sie lächelte mir matt entgegen. „Ich wünsche dir viel Spaß.“
„Danke“, gab ich ebenfalls lächelnd zurück. „Und du kurier noch deinen Arm aus. Nicht, dass du noch mit Koukol verwechselt wirst.“
Sie musste tatsächlich kurz aber ehrlich auflachen. „Das mache ich. Der Ellenbogen tut schon fast nicht mehr weh. Nur geschwollen ist er noch ein wenig.“
Ich nickte und wollte noch etwas sagen, wurde daran jedoch gehindert, als jemand an die Tür klopfte. Entschuldigend sah ich zu Laura.
„Dein Eskorte-Service?“, fragte sie.
„Schätze mal ja.“ Ich legte ihr noch einmal Mut zusprechend meine Hand auf die Schulter. „Bis später, ja? Ich erzähle dir dann von allen Einzelheiten.“
Sie nickte mit einem seltsam traurigen Blick, doch ein weiteres Klopfen rief mich zur Eile. Ich sah noch ein letztes Mal zu ihr, dann wandte ich mich der Tür und dem hinter ihr wartenden Herbert zu. Ich hakte mich bei ihm ein und zusammen mit ihm machte ich mich auf den Weg in Richtung Mitternachtsball.

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