Kapitel 21 - Heimat

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Die Nacht war dunkel. Wolken bedeckten den Sternenhimmel. Ringsum war nichts als Dauerregen. Gelbes Licht flackerte, ließ die schwarzen Schatten tanzen. Der leichte Wind zog kalt an meinem Kleid, sodass mir fröstelte. Ich schlang die Arme um mich, spürte den nassen Stoff, aufgeweicht und schwer.
Tropfen lösten sich von meinen Haarsträhnen und fielen mir ins Gesicht. Verwundert blinzelte ich. Wo war ich?
Der Schnee war verschwunden. Ebenso der Sturm. Der Baum hinter mir war fort. Stattdessen saß ich auf etwas hartem... einer Bank. Meine Finger streckten sich zu den angerosteten Latten und strichen über das nasse Metall. An einigen Stellen war die blaue Farbe abgeblättert. Die freien Stellen fühlten sich rau an.
Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln. Für diese heruntergekommene Bank. Sie war nicht schön. Sie war nicht einmal wertvoll. Doch sie bedeutete mir die Welt. Meine Welt. Meine Realität. Ich saß auf dieser Bank, ich spürte sie, ich spürte den Regen auf meiner Haut und Kälte, die an mir fraß. Und trotz dessen ich das Knurren des Grafen immer noch in meinem Kopf hallen hörte, trotz dessen ich seine Fangzähne noch immer vor Augen hatte, wusste ich:
Ich bin zuhause.
Meine Tränen vermengten sich mit dem Regen auf meinem Gesicht. Eine Explosion von Glücksgefühlen erschütterte mich. So vieles prasselte auf mich ein... Ich war daheim. Der Spuk hatte ein Ende! Der Graf war fort, Das Schloss und der Schnee... Ich würde meinen Bruder wiedersehen, ich würde Mama umarmen und ihre Plätzchen essen. Ich würde Papa wiedersehen. Alles würde wieder normal werden... fast.
Plötzlich war alle Euphorie wie weggewischt. Ich sah auf die Bank, auf den leeren Platz neben mir. Ich vermisste lange, silberblonde Haare. Ich vermisste das schrille Mädchen, das mir über die letzten Tage geholfen hatte. Ich sah ihr Lächeln, hörte ihre stets fröhliche Stimme... Doch sie war nicht da und die Vorstellung verflog mit dem nächsten Windhauch, der mich frösteln ließ.
Es fühlte sich an, als wenn ein Loch in meinem Herz klaffen würde, leer und schmerzend. Doch es war nicht nur Feli und ihr markerschütternder Schrei, der flehende Blick, der das Loch weiter aufriss. Es war auch der Graf. Die Nähe, die zwischen uns entstanden war und der Abgrund, den er letztendlich errichtet hatte, als er Feli gebissen hatte.
Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen. Warum war nur alles so kompliziert? Warum hatte alles so schrecklich falsch laufen müssen? Ich wollte es rückgängig machen, ich wollte nie zum Musical gegangen sein... Ja, ich wünschte mir sogar, es wäre nie entstanden.
Alle meine Wünsche strömten aus mir heraus, flüssig und salzig. Ich hatte Angst. Angst davor, nachhause zu kommen, meine Eltern wieder zu sehen, ihnen all das erklären zu müssen. Ich hatte Angst vor dem, was sich verändert haben mochte. Angst davor, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Ich hatte Angst davor, dass nichts mehr war, wie ich es vor all den Vorfällen gekannt hatte.
Ich wusste nicht, wie lange ich auf der Bank gesessen hatte, wie lange ich an all meine Furcht gedacht hatte. Irgendwann starrte ich nur noch auf einen undefinierbaren Punkt, weit fern von der Realität. Irgendwo dort, wo ich mich hin wünschte, um vor allem fliehen zu können.
Während ich an jenem weit fern gelegenen Ort verweilte musste eine Polizeistreife vorgefahren sein. Ich bemerkte weder das Blaulicht, noch das Motorengeräusch. Doch die Berührungen des Beamten holten mich ruckartig zurück ins Jetzt. Ich starrte den Uniformierten verdutzt an, hörte seine Worte kaum. Stattdessen nahm ich einfach die Wolldecke und den Regenschirm entgegen, ließ mich von ihm in den Streifenwagen manövrieren und anschnallen.
Wo lang wir fuhren bekam ich ebenfalls nicht mit, obwohl ich die Gegend unter anderen Umständen wie meine Westentasche kannte.
Alles war real gewesen. Das Schloss, der Graf, die Zeitreise... Ich hatte auf einen Traum gehofft, auf ein Erwachen aus einem Koma, auf irgendetwas Einfaches, Normales. Doch stattdessen hatte ich mich auf der Bank wiedergefunden. Ohne das Mädchen, mit dem ich in die Vergangenheit gereist war.
„Wir sind da", erklärte mir einer der beiden Polizisten. Er war korpulent, hatte ein sympathisches Lächeln auf dem Mondgesicht. Seine kurzen braunen Haare wanden sich an den Enden zu kleinen Locken. Er saß noch am Steuer, während sein Kollege bereits ausgestiegen war und mir die Tür öffnete, den Regenschirm hielt und mir aus dem Auto half. Er war dünner als der Fahrer, hatte schütteres, angegrautes Haar. Ich beachtete ihn nicht, sondern starrte nur auf die leuchtenden Lettern, die den Eingang des vor uns liegenden Gebäudes schmückten - Ambulanz.
Seltsamerweise spürte ich keinen Widerstand in mir, sondern ließ mich völlig lethargisch von den Beamten hinein schieben und auf einem der Stühle platzieren, während der dickere von beiden die nächste Krankenschwester konsultierte.
Im selben Moment stürmten einige Personen in den Wartebereich.
„Laura! Oh mein Gott, Laura!" Mama kam auf mich zu gerannt und warf sich mir um den Hals. Ich war m ersten Moment völlig überrascht. Dann kam zum ersten Mal eigenständige Bewegung in meine Glieder und ich stand auf, um sie noch enger zu umarmen. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht!"
„Ich weiß", schluchzte ich, schon wieder bitterlich weinend. „Ich habe euch so vermisst."
Mein Bruder sorgte dafür, dass Mama sich nach einer kleinen Ewigkeit von mir löste und er ebenfalls seine Wiedersehensfreude in überschwänglichen Umarmungen kundtun konnte. „Wo warst du nur, Schwesterchen?" Ich hörte selbst ihn schluchzen. Zum sehen war mein Blick viel zu verschleiert. „Ich sag doch, du brauchst nen Führerschein..."
Ich brachte einen kläglichen Mix aus Lachen und Heulen zustande. Doch er klang nicht besser, als er mich freigab, sodass ich auch Papa umarmen konnte.
Und am Schluss, als ich alle umarmt und mich ein wenig beruhigt hatte, fielen mir die beiden Personen auf, die sich zu den Beamten gestellt hatten. Ich sah sie nur von hinten und fragte mich, welches Problem sie wohl haben mochten. Doch als die Frau sich zu mir umsah, ein zerknülltes Taschentuch in der Hand und rote Augenringe im Gesicht, blieb mir fast der Atem weg. Ich starrte sie regungslos an. Sie sah mir in die Augen, im ersten Moment hoffnungsvoll, dann nur verzweifelt. Bis sie ihre Hände vors Gesicht schlug und erneut ins Schluchzen verfiel, sodass ihr Mann sie tröstend in den Arm nahm.
In dieser Nacht musste ich zur Überwachung das Krankenhausbett hüten, wurde von den Polizisten zu der vergangenen Woche befragt und konnte doch keine wirkliche Auskunft geben. Wo war ich? War ich mit Feli dort gewesen? Waren dritte verwickelt gewesen? Was war geschehen? Wie war ich zurück gelangt? Wo war Feli jetzt? Ob mir sonst noch irgendetwas aufgefallen wäre? Ich wusste keine Antwort darauf.
Ich hörte, wie meine Mutter auf dem Flur beraten wurde, dass eine psychologische Behandlung für mich ratsam wäre. Ich wusste schon jetzt, dass ich dort nicht hingehen wollte. Wie sollte sie mir schon helfen? Ich konnte doch keinem erzählen, was geschehen war. Und am wenigsten konnte ich es mir selbst eingestehen. Denn was ich nicht für wahr hielt, würde mein Verstand nicht als wahr akzeptieren. So schob ich alle Zweifel, Ängste und Nöte beiseite und konzentrierte mich auf das Jetzt. Es war viel einfacher, als sich mit allem auseinander zu setzen. Also aß ich Mamas Plätzchen, neckte meinen Bruder und ging mit meinem Hund Fluffy durch die Stadt. Ich ging zwei Wochen später sogar wieder zur Schule und holte den versäumten Unterrichtsstoff auf. Ich wollte mein Leben dort weiter führen, wo die Zeitreise es unterbrochen hatte.
Doch so leicht war das gar nicht. Die Mädchen aus der Klasse sahen mich mit schiefen Blicken an. Die alten Tratschtanten aus der Straße zerrissen sich die Mäuler über mich, wenn ich an ihnen vorbeiging. In den Zeitungen stand der seltsame Fall um mein und Felis Verschwinden dick und fett gedruckt. Die Spekulationen um die Suche nach Feli gingen bis ins Undenkbare. Die Polizei befragte mich noch drei Mal zu diesem Thema, bis sie es aufgaben, mehr aus mir heraus zu bekommen. Vorerst.
Doch all das ließ ich nicht an mich heran. Ich wollte davon so wenig wie möglich wissen, in der Hoffnung, wieder Normalität zu erreichen. Immerhin ging ich nicht davon aus, dass mich die Vergangenheit einholen würde.

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