Kapitel 18 - Dummes Herz!

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Ein warmes Prickeln auf der Nase war es, das mich verschlafen die Augen öffnen und selig blinzeln ließ. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen, die ich nicht zugezogen hatte, fiel ein schmaler Streifen Licht. Er zog sich in goldigem Orange über den Boden, verlieh der düsteren Stimmung im Raum einen warmen Schimmer.
Ich schmunzelte, schlug mir die Decke von den Füßen und streckte mich genüsslich im Bett – was von einem dumpfen Ziehen im Ellenbogen quittiert wurde. Seufzend ließ ich den Arm so langsam wie möglich wieder sinken, begutachtete kurz den Verband, der mir heller schien als am Vortag und der um mein Gelenk herum seltsam verdickt war. Als ich mit der linken Hand vorsichtig danach tastete, gab der Wulst leicht nach. Danach haftete an meinen Fingern ein intensiver Geruch nach Kräutern und Schwedenbitter. Wie aufmerksam! Der Graf hatte mir tatsächlich einen neuen Verband angelegt.
Bei dem Gedanken an den mystischen Vampir mit diesen tiefgründigen, undurchdringlichen Augen, dem hübschen Mund und den langen Beißerchen überkam mich Glückseligkeit und eine innere Unruhe gleichermaßen. Ich fühlte mich zwischen Schmetterlingen im Bauch und einem schlechten Gewissen hin- und hergerissen. Zum einen war er attraktiv und das, was in der letzten Nacht geschehen war, fühlte sich immer noch angenehm prickelnd im Schoß an. Zum anderen aber fühlte ich mich gleichzeitig leer und unsicher. Wie sollte ich ihm begegnen? Wie würde er sich verhalten? Wie würde Feli reagieren, wenn sie davon erfuhr? Würde sie es erfahren?
Ein Schauer der Kälte überlief mich. In meinem Kamin brannte kein Feuer, was den Raum hatte auskühlen lassen. Fröstelnd stand ich also auf, ging zur Feuerstelle und stapelte einige Holzscheite und etwas Stroh aus dem nebenstehenden Korb hinein. Neben dem Korb lagen altertümliche Schwefelhölzchen. Ich griff nach einem von ihnen und ließ es über den groben Stein der Wand gleiten. Noch im selben Moment flammte es auf. Mit einem Schmunzeln hielt ich es an das Stroh. Kurz darauf knisterten und knackten gierige kleine Flammen zwischen den Scheiten.
Die Wärme, die sich sogleich ausbreitete, war herrlich. Binnen einer Minute loderte das Kaminfeuer. Zufrieden mit meiner Leistung stand ich auf und ging zum meinem Spiegel direkt neben der Kommode herüber. Er war schon ziemlich blind und von feinen Kratzern bedeckt. Doch für meine Zwecke genügte er. Ich war ohnehin eine Person, die nicht x-mal am Tag ihr Abbild betrachten musste, nur um zu sehen, wie toll es doch aussah.
Als ich jedoch betrachtete, was mir dort halb verschleiert entgegen blickte, war ich erst einmal völlig perplex. Ich starrte in meine Augen, sah meine zerwuschelten Haare, meine nicht gerade unauffälligen Augenbrauen und dann dieses Unterhemd, von dem ich nicht wusste, wie es an meinen Körper gelangt war.
Einen Moment lang verharrte ich noch in meiner Reglosigkeit, dann übermannte mich eine Welle erbarmungsloser Übelkeit.
Ich erinnerte mich daran, dass ich baden war. Ich hatte mir dieses wundervolle Bad eingelassen. Feli hatte mir sogar dabei geholfen und verschiedene Duftöle ins Wasser geträufelt. Ich hatte mich so unheimlich wohl und sicher gefühlt… Und dann war ER da gewesen.
Es war kein Traum gewesen! Verdammt, das war tatsächlich geschehen! Er hatte mich im Bad ertappt und… verführt… und…
„Oh Gott!“ Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. Was hatte ich denn bitte getan?! Wozu hatte ich mich hinreißen lassen? Der Graf war ein Vampir! Also faktisch tot. Eine Leiche! Ich hatte mit einer Leiche geschlafen!!
Der Gedanke schüttelte mich am ganzen Körper. Ich war von einem toten Organismus liebkost worden! Das war… argh! Mal ganz davon abgesehen, dass der Graf mindestens so alt war wie mein Vater. Oder eher mindestens so alt aussah. Widerlich!
Mein Magen schien ähnliches zu denken und war kurz davor die Reste von Felis mühsam gekochter Suppe wieder hervor zu bringen. Mit Mühe schluckte ich die bittere Galle wieder herunter und bereitete mir so eine weitere ausgereifte Gänsehaut. Außerdem beschlich mich dadurch ein intensiver Drang, in eine Ohnmacht zu fallen. Die Welt um mich herum war so stabil wie ein Schiff in Seenot. Ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht gänzlich das Gleichgewicht zu verlieren.
Trotz allem noch sah ich sein aristokratisches Gesicht vor meinem inneren Auge. Ich wollte es berühren, wollte seine kühle Haut spüren. Verdammt, ich wollte jetzt viel lieber in seinen starken Armen liegen, statt halb aufrecht und wankend an der Wand zu lehnen.
Ich wartete einen Augenblick in dieser Haltung bis der gröbste Schwindel vorüber war. Dann stieß ich mich kopfschüttelnd wieder ab. Ich war doch verrückt, mich zu ihm hingezogen zu fühlen! Ich war ja immer noch ein Mensch und er ein Vampir. Er hatte Zähne und ich das Blut, nach dem er gierte. Und da glaubte ich tatsächlich noch in völlig irrationaler Naivität, ich könnte ihn… lieben? Bei Gott, ich musste den Verstand irgendwo zwischen Bibliothek und Speisesaal verloren haben!
Allerdings war es wirklich prickelnd und entspannend zugleich gewesen, wie seine Finger sanft mit meinem Haar gespielt hatten. Und seine Küsse… Verdammt, wie konnte ein Kerl nur so gut küssen?! Das war doch nicht fair!
Mein Kopf begann allmählich protestierend zu dröhnen, was nicht unbedingt positiv zu meiner Stimmung beitrug. Mit einem Seufzen beschloss ich, mir erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht zu schmeißen. Vielleicht würde ich dann wieder klarer denken können. Vielleicht würden sich ja sogar alle Probleme in Luft auflösen? Ich hielt das zwar für unwahrscheinlich, aber dran glauben wollte ich trotzdem. Die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt, auch wenn meine bereits irgendwo zwischen klinischem und Hirntod wandelte.
Kaum hatte ich jedoch die Badtür erreicht, scheiterte mein Vorhaben. Abgeschlossen. Von der anderen Seite der Tür drang leises Summen zu mir. Feli. Oder besser: Feli, die grad sehr entspannt und sehr glücklich dort liegt, wo mich am Vorabend der werte Schlossherr überrascht hatte.
Resignierend fuhr ich mir durchs Haar. Dann eben kein Bad, kein kaltes Wasser, kein klares Denken. Und das mit den sich in Luft auflösenden Problemen konnte ich wohl erst recht vergessen. Warum auch nicht?
Die letzte Hoffnung auf Frische war das Fenster in meinem Schlafgemach. Das Kaminfeuer hatte den Raum inzwischen von antarktischer Kälte zu afrikanischer Hitze transformiert. Statt Kälteschauern überlief mich inzwischen mein eigener Schweiß. Zum Glück ließ sich das Fenster, das ich als erstes ansteuerte, auch gleich öffnen. Nach ausdrucksstarkem Quietschen ölarmer Scharniere wehte mir eine frische Brise entgegen, die mich aufatmen ließ.
Für einen Moment gab ich mich ganz der Kälte hin. Ich glaubte sie sogar schon in meine Gedanken eindringen zu spüren, bis mich plötzlich eine Erkenntnis traf. Sofort wurden meine Augen heiß. Und obwohl ich es verhindern wollte, flossen Tränen über meine Wangen.
Ich hatte mich in meinen Tod verliebt.
Dieser Satz waberte nicht länger als abstraktes Gebilde in meinem Unterbewusstsein. In einem erbarmungslosen letzten Schritt war er direkt in meine Gedanken eingedrungen und hatte sich nun dort festgesetzt, eine dunkle, endgültige und traurige Atmosphäre verstreuend.
Ich liebte ihn. Diese Tatsache mochte ich vielleicht nicht wahrhaben, doch leugnen konnte ich sie auch nicht. Ich liebte denjenigen, der mich zweifellos umbringen würde. Und trotz dieses Wissens konnte ich nicht aufhören, an ihn zu denken und mich nach ihm zu sehnen. Ich war dumm und naiv! Doch meine sonst so gesunde Rationalität hatte sich völlig verabschiedet.
Dabei wollte ich doch gar nicht weinen. Ich wollte vom Grafen los kommen. Ich musste. Ansonsten würde ich sterben… Im Grunde konnte ich ja nur verlieren. Entweder den Grafen, oder mein Leben.
Schniefend wischte ich mir die Tränen von den Wangen und blinzelte in die Nachtluft. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es bereits dunkel geworden war. Aus einer instinktiven Angst heraus horchte ich in mich hinein, ob dort nicht noch jemand war, der da nicht hingehörte. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass er in meine Gedanken eingedrungen wäre. Doch zu meinem Glück ist dort nichts.
Außer der heranreifende Entschluss, mich nicht mehr einfach so von irgendwelchen manipulativen Tricks beeinflussen zu lassen. Der Graf tat all das immerhin nur, um seine Mahlzeit zu sichern. Als wenn er mich lieben könnte! Nein, ich würde bei dem Spiel nicht mehr mit machen. Da verlor ich doch lieber ihn als mein Leben, meine Zeit und meine Familie.
Mit neuem Selbstbewusstsein blinzelte ich die letzten Tränen weg, nahm noch einen tiefen Atemzug der klaren Nachtluft und schloss das Fenster wieder. Dann ging ich zu meinem Kleiderschrank, öffnete beschwingt die beiden Türen und begutachtete, was sich meinem Auge bot. Wieder andere Kombinationen von Farben und Stoffen. Wieder ausgefallenere Schnitte mit tiefem Dekolté und schmaler Taille. Ich rümpfte wie schon so oft die Nase, schob die Kleiderhaken auf der Stange hin und her, bis mir ein hübsches Kleid in mattem Ocker auffiel. Wider erwarten war es weder von Motten zerfressen, noch an irgendwelchen Stellen unpassend geschnitten. Im Gegenteil, es passte wie angegossen.
Ich erlaubte mir keinen Gedanken an das ‚Warum?’. Mir blieb auch gar keine Zeit, da es im selben Moment noch an die Verbindungstür klopfte. Kurz darauf steckte Feli ihren Kopf zu mir ins Zimmer.
„Hey, du bist ja wach,“      bemerkte sie freudestrahlend und grinste mir entgegen. „Ich wollte nur sagen, dass das Bad jetzt frei ist.“
Ich lächelte mein schönstes gezwungenes Lächeln. „Danke für die Info“, brachte ich halbwegs fröhlich hervor.
„Sag mal, irgendwas ist doch mit dir. Geht es dir nicht gut?“ Feli zog eine besorgte Miene und trat nun ganz in mein Zimmer ein.
Ich hingegen zuckte nur bedeutungslos mit den Schultern. Was sollte ich auch sagen? Dass ich das Bad jetzt nicht nutzen würde, weil mir gestern zu gleicher Stunde ein lüsterner Graf aufgelauert hatte?
Zum Glück musste ich nicht noch sämtliche Aufmunterungsversuche Felis über mich ergehen lassen. Ein Klopfen an meiner Zimmertür ließ uns beide erstaunt aufsehen. „Ja?“ rief ich mehr oder minder erfreut.
Die Tür öffnete sich.
Und ein blonder Vampir mit überaus stilvoller, figurbetonter Kleidung trat ein. Vor allem dieser matt glänzende, weiße Stoff seines Jacketts war faszinierend. Er glitzerte irgendwie – oder schimmerte vielmehr blassgold. Wie flüssiger Honig in Milch… seltsam.
„Meine Damen, entschuldigt bitte die Störung. Doch Vater lässt zum Essen bitten.“ Er verneigte sich galant und lächelte uns verschmitzt zu. Das war also Herbert. Ich hatte mir den Grafensohn live und in Farbe irgendwie anders vorgestellt. Irgendwie… düsterer, weniger sympathisch. Doch der Umstand, dass er eigentlich ganz nett war, lockerte die Stimmung ein wenig.
So kam es also, dass wir kurze Zeit später im Speisesaal saßen, jeder auf seinem gewohnten Platz, am kurzen Tischende zu meiner Rechten der Graf, wie er auf einem hochlehnigen, verzierten Stuhl thronte. Ich mied es tunlichst, meinen Blick auf ihn zu legen. Mir war in seiner Anwesenheit schon Unwohl genug. Nicht einmal das Essen – eine Art Kotelett mit Pilzsoße – konnte ich genießen, da mir jeder Bissen übel aufstieß. Schließlich legte ich fast synchron mit Feli das Besteck nieder und lehnte mich zurück, während mein Blick wie gebannt auf dem Wasserglas vor mir hängen blieb.
„Ich hoffe, das Essen war genehm?“, ertönte die Stimme des Grafen, so unerwartet, dass ich kurz zusammen zuckte. „Leider bin ich, was kulinarische Künste angeht, auf die Dienstleistungen des nächstgelegenen Dorfes angewiesen, was meine Möglichkeiten bedauerlicherweise einschränkt.“
Meine Hände im Schoß abgelegt knetete ich sie, bis die Knöchel sich weiß abzeichneten. Ich warf Feli einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Sie sah einen kurzen Moment lang fragend zurück, dann jedoch richtete sie sich an den Grafen. „Ja, vielen Dank. Es hat gut geschmeckt.“
Unser Gastgeber schwieg, wahrscheinlich hatte er nur genickt. Doch das Grauenvollere war, dass ich seinen Blick förmlich auf mir spürte. Verdammt!
„Und wie hat es dir geschmeckt, Laura?“
„Gut, danke“, antwortete ich hastig, griff nach meinem Wasserglas und setzte es, ein Zittern unterdrückend, an meine Lippen.
„Sehr schön“, fuhr der Graf fort. „Dann sollte dem Ball heute Abend nichts mehr im Wege stehen. Ich freue mich bereits, euch beide zu meinen Gästen zählen zu dürfen.“
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Getränk. Gerade noch rechtzeitig stellte ich es auf den Tisch und rettete mich mit einem Hustenanfall. Als ich wieder klar gucken konnte, bemerkte ich Felis plötzliche Blässe, auch wenn sie ein gezwungenes Lächeln aufgesetzt hatte.
Da sie jedoch nichts weiter sagte und ich einigermaßen meinen Atem wiedergefunden hatte, räusperte ich mich etwas unbeholfen. „Ich, ich werde nicht teilnehmen“, brachte ich krächzender als erwartet hervor.
Der Graf musterte mich wieder mit diesem seltsam spürbaren Blick. „Bitte?“
„Der Ball… Ich werde nicht teilnehmen, tut mir leid.“ Jetzt sah auch Feli neugierig zu mir. Ich sandte ihr einen hilflosen Blick, doch sie verstand nicht. Wie auch, sie wusste ja nicht, was geschehen war.
„Ich fürchte, der Ball würde ohne deine Anwesenheit einen Großteil seines Glanzes verlieren“ Dieser Graf… Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht auch noch in Tränen auszubrechen. Natürlich würde ich gerne mit ihm tanzen! Seine Berührungen waren unbeschreiblich gewesen! Aber ich durfte nicht!
„Es geht nicht“, beharrte ich. Oh man, warum verlangte mein Kopf so etwas völlig anderes als mein Herz! Und warum zum Teufel schrie mein Herz nach einem Toten?! Dummes Herz!
Dein Herz schlägt recht schnell, findest du nicht?
Mein Blick schnellte nun doch zu ihm. Zu jenem Kerl, der seelenruhig in seinem Hochlehner saß, die Beine galant übereinander geschlagen, die feingliedrigen Finger auf dem Knie verschränkt, das lange, nur noch halbdunkle Haar über die Schultern fließend, in aller Ausgeglichenheit meinen tötenden Blick triumphierend erwidernd.
Was Feli in diesem Moment über mich dachte, war mir reichlich egal!
„Ihr seid ein widerlicher Sadist!“
Er lächelte mir stumm zu, ehe er sich in langsamer Eleganz von seinem Stuhl erhob. „Meine Damen, ich muss mich vorerst von euch verabschieden, es warten noch einige Vorbereitungen für den Ball“, erklärte er freundlichst an Feli und mich gewandt. Ich fragte mich, wo er nur seine Selbstverliebtheit her nahm!
Doch ehe ich mich von meiner Wut erholen konnte war er bereits auf den Korridor entschwunden.
Entschieden drückte ich mich von der Tischkante ab und stand ebenfalls auf. „Entschuldige, Feli. Ich brauche ein bisschen Ruhe“, richtete ich noch ein paar kraftlose Worte an die letzte noch verbliebene Person im Raum. Dann hatte auch ich sie zurückgelassen. Der letzte Blick, den ich von ihr hatte erhaschen können, war nicht mehr als ratlos und verzweifelt gewesen.

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