Kapitel 6 - Schiller

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Das durch die Jahre vergilbte Blatt Papier zwischen meinen Fingern raschelte leise, als ich die Buchseite umschlug. In blasser Schrift aufgedruckte Lettern schnörkelten sich durch die Zeilen. Sie sind schwer zu lesen. Die Linien dünn, die Wörter in Englisch oder Latein. Ich war mir nicht sicher. Vielleicht auch eine ganz andere Sprache. Als die Seite umgeschlagen war, hatte ich sie längst vergessen. Mein Blick haftete längst auf der Zeichnung, die sich mir offenbarte. Vielleicht Kupferstich. Oder Holztisch. Das schwarz-weiß schraffierte Gebäude sah groß aus, majestätisch. Auf einem der Türme prangt ein Kreuz, die Form ließ auf eine Kirsche schließen. Eine große, mit Mittelschiff und Querschiff und der Vierung, auf der das Kreuz thronte. Ich wunderte mich, wie viel vom Kunstunterricht doch hängen geblieben war.
Ich strich mit dem Finger über die Abbildung. Ob ich so etwas auch mal in Echt sehen würde? In dieser Zeit? Hier mussten die Menschen noch viel Gottesfürchtiger sein, noch gläubiger. Eine Kirche wäre sicher ein gut besuchter Ort. Und sie würde noch viel mehr Atmosphäre ausstrahlen als die verbliebenen Kirchen aus meiner Zeit.
„Das ist eine Kirche aus Bukarest. Ein eindrucksvoller Bau der Romanik. Sehr massiv, wie es zu jener Zeit üblich war." Die Stimme des Grafen riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah nicht zu ihm auf. Noch immer spürte ich die Wut bei dem Gedanken, dass er mein Armband gestohlen hatte. So etwas gehörte sich einfach nicht. In dieser Zeit wohl noch weniger als in meiner.
Ich blätterte weiter. Für einen Moment blieb mein Blick an meinem Handgelenk hängen. Es fühlte sich plötzlich so anders an. So als wäre ich nackt. Ein unangenehmer Gedanke, der mich schwer schlucken ließ.
„Der Verlust deines Schmucks ist bedauerlich, doch ich kann nur für meine Unschuld plädieren," meinte der Graf. Ich sah verwirrt zu ihm auf. Woher wusste er, worüber ich mir den Kopf zerbrach? „Du wirkst so bedrückt darüber. Dabei hättest du künstliche Verzierungen nicht nötig."
Dieser Adlige wurde mir allmählich richtig unheimlich. Nicht nur, weil es sich irgendwie anfühlte, als könne er in meinen Kopf gucken. Auch, weil er völlig entspannt und scheinbar desinteressiert auf seinem Sofa saß, das Gesicht dem leise knackenden Feuer zugewandt, den linken Arm lässig über die Lehne gelegt. Die Beine hatte er übereinander geschlagen, der Umhang lag auf der Armlehne des Sofas - fein säuberlich zusammengelegt. In der rechten Hand hielt er ein Weinglas. Eigentlich sah er so fast friedlich aus. „Nimm dir für den Anfang lieber einen Roman, keine historische Abhandlung."
Ich sah auf das Buch in meinen Händen und schüttelte den Kopf. „Ich finde es ganz interessant," murmelte ich und schlug wieder um. Zu meiner Überraschung zeigte sich nun eine Art Landkarte. Beidseitig waren die Buchseiten bedruckt. Kleine Dreieckte zogen sich in einer langgezogenen Anordnung über das Bild. Vermutlich ein Gebirge. Als ich die blassen Lettern über diesen Dreiecken entzifferte, war ich sogar noch überraschter. Es waren tatsächlich die Karpaten. Wie passend!
„Interessanter als die Verfolgung von Verbrechen?"
Ich blätterte weiter. „Ja." Wobei ich Krimis eigentlich gar nicht so schlecht fand. Im Grunde las ich sie sogar recht gerne.
„Wie bedauerlich. Ich habe einige spannende Exemplare in meinen Regalen. Ebenso wie einige interessante Ausführungen von Lyrik. Schon immer gab es große Denker, die über den Rahmen ihrer Zeit experimentiert haben - wenngleich sie nicht sehr angesehen waren."
Ich nickte stumm und blätterte weiter. Die nächsten Seiten waren vorrangig zusammenhängender Text. Um diese Uhrzeit stand mir nicht mehr der Sinn danach, mich damit zu beschäftigen. Stattdessen betrachtete ich die Bilder und die Bildunterschriften. Das war meist auch ganz inspirierend.
„Besonders empfehlenswert ist auch die Literatur des Barock." Ich sah nicht auf. Sollte er denken, was er wollte. Ich würde seine Tipps schon gar nicht annehmen. Immerhin hatte er mich auf sein Schloss eingeladen, mir ein Kleid vorgesetzt, mir den Schmuck geraubt und sich erdreistet, mir ein Kompliment zu machen. Wenn da nicht offensichtlich war, was er wirklich mit mir vor hatte... „Wenn jene nichts für dich sein sollte, kann ich noch zeitgenössisches empfehlen. Gerade sind große Dichter dabei, ihre wildesten Emotionen zu Papier zu bringen. Daraus ist schon manch mitreißende Ballade geworden. Ich hörte von einem emporstrebenden Dichter in Deutschland. Schiller ist sein Name. Ich habe mir einige seiner ersten Werke zukommen lassen."
Ich schmunzelte. Schiller - zeitgenössische Literatur. Das würde erst einmal erklären, in was für einer Zeit ich hier gelandet war. Laut meinem Deutschlehrer musste das entweder Sturm und Drang oder Klassik sein. Oder war es Aufklärung?
Der Graf bemerkte meine Reaktion. „Du kennst Schiller?" Ich sah doch auf, starrte jedoch nur auf den dunkel gemaserten Tisch.
„Ich habe den Namen schon einmal gehört," log ich und griff nach meinem Glas Wasser, ehe ich mich wieder zurück lehnte und wieder im Buch blätterte.
Obwohl ich die Buchstaben vor meinen Augen wahrnahm, konnte ich nicht sagen, was dort wirklich stand. Die Zeilen verschwammen zu grauen Streifen. Meine Augen brannten allmählich und eine Träne war im Begriff, den Weg gen Erdmittelpunkt anzutreten. Das aufkommende Gähnen konnte ich gerade so unterdrücken.
Mich von der Müdigkeit geschlagen gebend klappte ich das Buch zu. Mit einem dumpfen Geräusch schlugen die Seiten aufeinander. Ich musste doch gähnen. Gerade rechtzeitig hob ich die Hand zum Mund. Seufzend sank ich anschließend in die weiche Lehne des Sofas. Auch dieses Möbelstück war aus Samt. So wie das im Kaminzimmer. Wohlig kuschelte ich mich noch weiter in die weichen Polster.
Einige Augenblicke blieb ich so, lauschte dem Knistern des Feuers und dem unregelmäßigen Knacken der Holzscheite. Meine Lider wurden immer schwerer. Ich glaubte sogar anzufangen, zu träumen. Doch je deutlicher die Bilder vor meinen Augen erschienen, desto stärker wurde mein Kopfschmerz.
Ich wollte mich gerade nach vorne lehnen und mein Wasserglas greifen, um einen Schluck zu trinken, als mir die stoische Gestalt gegenüber auffiel.
Moment, hatte ich soeben völlig vergessen, in wessen Gegenwart ich mich befand? Oh Gott! Sofort saß ich kerzengerade. Die Hände schwitzig feucht im Schoß zusammengefaltet sah ich auf mein Glas. Verdammt, ich hatte mich vor einem Vampir gehen lassen!
„Du bist so schweigsam geworden, Laura."
Ich sah zögernd auf. Zu meiner Verwunderung starrte der Graf anteilnahmslos in die Flammen, zeigte keine Regung. Wie zu einer Statue erstarrt saß er dort, das Weinglas in der Hand. Nur die rote Flüssigkeit schwappte merkwürdig zäh vor sich hin. „Ich... Bin nur etwas müde," gab ich zurück und musste mich räuspern, um den Kloß im Hals zu verbergen.
Sein Blick wanderte vom Feuer auf den Wein, den er mit halb gesenkten Lidern betrachtete. „Du siehst so angespannt auf meinen Wein. Stimmt etwas damit nicht?"
Ich runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Ich bin nicht so bewandert, was Alkohol angeht." Warum fragte er mich überhaupt? Er wusste doch am besten, was für ein Gesöff er sich da zusammen mixte... Ich sprach meinen Gedanken lieber nicht aus. Denn die Art und Weise, wie er auf das Rot starrte, war gruselig. So... verlangend, mit demselben Lodern in den Augen, mit dem sich die Flammen im Wein spiegelten.
„Du bist verlegen," meldete er sich plötzlich zu Wort.
Ich fuhr zusammen. Meine schwitzigen Hände kneteten einander. „Ich bin nur müde", beharrte ich. Ein wenig unbeholfen strich ich mir mehrmals eine Strähne aus dem Gesicht, ehe sie endlich hinter meinem Ohr hängen blieb.
Ruhig bleiben, Laura, redete ich mir ein. Dein Puls macht ihn sicher nur rasend. Und das willst du nicht riskieren. Wenn das so einfach wäre! Wo sein Blick auf das Glas doch unterschwellig schon zeigte, wie gerne er jetzt jemanden zerreißen würde. So hungrig und am Rande der Beherrschung. Ich rutschte vorsichtshalber ein wenig weiter nach hinten, den Abstand zu ihm vergrößernd.
Wer wollte schon Opfer eines Raubtieres sein, das so abwartend und lauernd vor einem saß, während es keinen Schein zu trüben verstand. Meine Müdigkeit hatte sich glücklicherweise verabschiedet, doch die Kopfschmerzen stachen mir unangenehm in die Schläfen.
Der Graf indes starrte immer noch gebannt auf den Wein, als könne er ihn so pulverisieren.
„Es wäre besser, du gingest auf dein Zimmer. Die Nacht hat nicht mehr viele Stunden übrig. Dein Körper braucht Schlaf." Er sah nicht einmal auf. Ich interessierte ihn ein Scheißdreck. Blieb nur noch die Frage, was das hier sollte.
Schwach nickend stand ich auf, hüstelte noch ein „Gute Nacht" und ging zur Tür. Wie ich den Weg zu meinem Zimmer finden konnte, ist mir schleierhaft. Doch ich fand die richtige Tür auf Anhieb, trat in mein Gemach ein und verriegelte von innen. Man konnte ja nie wissen. Obwohl bereits wieder einmal ein zartvioletter Streifen zwischen den Berggipfeln schimmerte. Der Graf hatte ja Recht - es war höchste Zeit, schlafen zu gehen.
Also ging ich zu meinem Bett, zog mir die engen Schuhe im Farbton meines Kleides aus und öffnete etwas unbeholfen die Schnüren im Rücken. Das dünne Unterhemd ließ ich an, warf die Zudecke zurück und ehe ich bis drei zählen konnte, lag ich tief und fest schlummernd in den weichen Kissen.

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