Kapitel 2 - Gestorben wird später

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Als wären Kälte und nasse Klamotten nicht Strafe genug, fing es auch noch an zu schneien. Erst waren es nur wenige Flocken, die sanft zu Boden rieselten. Dann verdichtete sich das weiße Zeug. Bis sogar noch Wind hinzu kam.
Ich hielt meine Arme fest um meinen Körper umschlungen und sah mich zu Feli um, die hinter mir her kroch. Ihr musste noch kälter sein als mir... Sie hatte immerhin nur Hotpants an. Und dünne Turnschuhe. Soweit ich erkennen konnte zitterte sie am ganzen Körper. Die arme...
Der Sturm erschwerte unser Vorankommen ernorm. Wir sahen die Hand vor Augen kaum noch, Wurzeln und Gestrüpp versperrten uns immer wieder den Weg und die kahlen schwarze Ungetüme ragten über uns empor. Es war schlicht gesagt stockdunkel. Und irgendwo in weiter Ferne heulten Wölfe.
Feli quiekte schrill, als sie den Ruf hörte. „Laura... Waren das Wölfe?“
Ich versuchte, meinen Unterkiefer vom Klappern ab zu halten und sah mich zu meiner blonden Begleitung um. „Ja,“ presste ich hervor. Meine Zähne schlugen doch wieder unkontrolliert aufeinander. „Keine Angst, die haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen.“
Feli sah sich nicht unbedingt beruhigt um. „Bist du sicher?“, fragte sie, wobei ihre Zähne ebenfalls laut klapperten.
„Todsicher.“ Ich hustete vor Kälte und schüttelte mich unwillkürlich. „Hab nen Referat drüber gehalten.“ Feli bewegte sich immer noch nicht weiter. Ich musste wohl etwas mehr Überzeugungsarbeit leisten, wenn ich heute noch ein Dach über den Kopf haben wollte. „Ehrlich, dass die böse sind... ist nur Märchen. Die... sind eigentlich ganz scheu.“ Mich überkam ein Muskelkrampf im Kiefer. Scheiß Kälte.
„Ich hoffe, du hast Recht,“ flüsterte Feli und stapfte mir hinterher, tiefe Furchen im Schnee hinterlassend. „Mir ist kalt, Laura.“
„Mir auch,“ gab ich ruhig zurück. „Wir dürfen trotzdem nicht stehen bleiben.“
„Meine Beine sind taub.“
„Komm, stütz dich bei mir auf,“ bot ich meine Hilfe an und reichte ihr meinen Unterarm. Wenn wir erfroren, dann gemeinsam. Ich konnte sie ja nicht einfach hier zurück lassen. Auch wenn mir mein Leben lieb war, ein Schwein war ich deshalb nicht.
„Danke,“ flüsterte Feli und zitterte erheblich, als sie mich erreichte.
„Wir müssen weiter. Schaffst du noch ein Stück?“
Eine Windböe zerrte an unserer klammen Kleidung. Von den Ästen der Tannen, Fichten und Kiefern um uns herum fielen kleine Schneelawinen. Das schwarze Holz knackte bedrohlich. Feli sah kurz zu den schemenhaften Silhouetten hinauf, dann nickte sie und wir stapften weiter.
Meine Füße schmerzten vor Kälte. Jeder Schritt fühlte sich an, wie auf Klingen. In meinem Kopf existierte nichts mehr, außer der Wille, zu überleben. Nur überleben. Mehr wollte ich ja gar nicht. Leben. Und zuhause an meiner alten Heizung sitzen, die gluckerte, wenn man sie ganz aufdrehte. Und ich wollte den weichen Stoff meines mollig warmen Kashmirpullovers spüren.
Ich bemerkte bei der Sehnsucht nach Wärme nicht einmal den Schimmer der Lichter, der sich unerwarteter Weise zwischen den Schatten der Bäume abzeichnete. Erst Felis Rütteln an meinem Arm ließ mich verwirrt aufsehen.
Von Hoffnung beflügelt vergrößerte ich meine Schritte. Auch Feli stolperte hastiger neben mir her. Und die Lichter wurden heller. Als sich die letzten Äste aus unserem Blickfeld schoben, erkannte ich sogar die Umrisse einiger schneebedeckter Dächer. Ich hätte laut losgelacht, wäre ich nicht völlig durchgefroren gewesen.
„Ein Dorf,“ murmelte ich, noch ganz ungläubig. „Ein Dorf.“
„Die können... uns helfen,“ meinte Feli. Ihre Haare waren von unzähligen weißen Flöckchen bedeckt. Selbst an ihren Wimpern hingen Eiskristalle.
„Ja, sicher,“ stimmte ich ihr zu und sah zu den Häusern. „Komm, wir klopfen an.“
Wir schleppten uns beide an die Tür einer der Hütten. Zu unserem Glück konnten wir schon von draußen sehen, wie die Menschen im Innenraum tanzten und lachten. Wie sie Bier in sich hinein schütteten und inbrünstig fremdartige Lieder sangen.
Ich lächelte und klopfte an die große Holztür. Als keiner öffnete umfasste ich den Türgriff und drückte. Ehe sich die Tür bewegte, musste ich mich jedoch mit ganzer Kraft gegen sie stemmen.
Dann wirbelten wir zusammen mit einigem Schnee und Wind in eine Art Schankraum. Die Musik verstummte. Zig Augenpaare starrten uns mit einer seltsamen Mischung aus Neugierde und Argwohn an. Keiner der Anwesenden sah wirklich gastfreundlich aus. Vielmehr wurde mir bei der neuen Stille flau im Magen.
„Entschuldigung,“ meinte ich und sah von einem zum anderen. „Wir... wir haben uns verirrt. Und uns ist schrecklich kalt. Dürfen wir uns ein wenig aufwärmen?“
Keiner reagierte. Feli, die noch immer mehr oder weniger an meinem Arm hing, fing wieder an zu zittern. Ein Blick auf die im Licht des Raumes offenbarte ein skurriles Bild. Die silberblonden Haare, die braune Haut. Ein etwas verschmierter Lidstrich und einige Kratzer von Dornen im Gesicht. Die Kleidung sah nicht minder mitgenommen aus. Zumal sie ohnehin einen krassen Kontrast zu der primitiven Fell- und Ledermode der Menschen hier bildete.
Ich befürchtete selbst nicht besser aus zu sehen. Was auch erklären würde, warum uns immer noch alle anstarrten, als wären wir Ausgeburten der Hölle.
Gerade als ich nochmal fragen wollte, trat ein älterer Herr hervor. Sein Bauchumfang zeugte von Wohlstand... oder zumindest von täglichem Bier-Konsum. Der kopf war bis auf einen grauen Vollbart kahl. Unter den buschigen Augenbrauen lagen dunkle Schatten. Er sah nicht gerade freundlich aus.
„Höllenpack,“ murmelte er. Ich starrte ihn perplex an. „Verfluchtes Höllenpack. Wir geben nichts! Weg hier! Husch, haut ab!“ Ich war fassungslos. Irgendwo hatte ich ja noch gehofft, doch noch Hilfe zu bekommen. Doch die Hoffnung verpuffte gerade. „Nun los! Verschwindet!“ Der Kerl hob die Hand, als wolle er uns eine scheuern. Ich erwachte aus meiner Starre und schob Feli an, die nur noch schnell die Tür öffnete und zurück in die Kälte huschte.
Aus den Fenstern starrten uns die Leute hinterher. Der glatzköpfige Kerl warf uns noch etwas durch die Tür hinterher. Als ich den Gegenstand im Schnee betrachtete, fiel mir auf, dass es so etwas wie ein Hefezopf war. Nur aus Knoblauch. Igitt.
Dann wurde die Tür zugeschlagen. Und wir standen wieder draußen. Im Dunkeln. In der Kälte. Ich sah zu Feli. „Die wollten uns wohl nicht haben.“
Die Blonde schüttelte den Kopf und starrte zu dem Haus. „Nicht wirklich.“ Sie starrte weiter und schien über etwas nach zu denken. „Du, sag mal... Kommt dir das Haus nicht auch irgendwie bekannt vor?“
Ich runzelte die Stirn und sah erst fragend sie, dann in gleicher Miene die Holzhütte an. „Ähm, ja. Erinnert mich an irgendetwas,“ musste ich schließlich zugeben.
„Mich auch,“ meinte Feli. „Ich hab das schon mal gesehen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wo denn? Bei der Haltestelle? Das waren doch nur Betonblöcke.“
Sie sagte nichts, bis sich ihre Augen weiteten. Sie klopfte mich am Arm. „Doch... Doch! Jetzt weiß ich, woher ich das kenne!“
„Und woher?“
„Du kennst das auch, ganz sicher!“
Die Art uns Weise, wie ihre Augen leuchteten, erinnerte mich an den Moment, in dem sie sich zu mir an den Stehtisch gestellt hatte. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. „Das Musical!“
„Ja! Das ist die Wirtsstube! Ganz sicher!“
„Und Chagall?“ Den hatte ich nirgends gesehen. Seine Haare und seine Art wären mir sicher aufgefallen.
„Keine Ahnung. Aber was noch wichtiger ist...“ Feli war kurz davor Freudensprünge zu machen. „Wenn das das Wirtshaus ist... Dann ist hier bestimmt auch irgendwo das Schloss!“
Ich sah sie einen Augenblick lang einfach nur an und fragte mich, ob das ihr Ernst war. Doch sie strahlte förmlich vor sich hin. Kein gutes Zeichen.
„Jetzt ernsthaft?“, fragte ich. „Du willst zu diesem Vampirgrafen flüchten?“
„Naja, die Dorfleute haben uns verscheucht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und irgendwo müssen wir unter kommen. Mir frieren schon wieder die Beine ein.“
Da hatte sie Recht. Der kurze Augenblick in der drückenden Hitze der Gaststube hatte zwar ungemein aufgewärmt, doch der Wind zerrte wieder an uns. Und es schneite nach wie vor. Hier draußen würden wir die Nacht nicht überleben, so ungern ich das auch zugab.
„Also dieses Schloss suchen?“, hakte ich nach.
„Wenn wir nicht erfrieren wollen – ja.“
Ich biss die Zähne zusammen. Felicitas war hier gerade eindeutig die Vernünftigere von uns beiden. Auch wenn ich den Glanz in ihren Augen so deuten würde, dass sie sich nur auf den Grafen freute. Warum auch immer.
„Okay,“ nuschelte ich. „Dann los, je eher wir da sind desto unwahrscheinlicher wird es, an Kälte zu sterben.“
Feli nickte und ging dann voraus. Ich folgte ihr dicht auf. Nichts wäre schlimmer, als sich jetzt aus den Augen zu verlieren. Zum Glück fanden wir eine Schneise zwischen dem Gestrüpp des Waldes. Vermutlich ein Weg, den wir nur gerne zu gehen bereit waren. Er erleichterte das Vorankommen ungemein. Keine weiteren Zweige, die vom Wind gepeitscht ins Gesicht schlugen. Keine Dornen, an denen die Klamotten hängen blieben. Nur eine dicke Schneeschicht, die uns bremste. Aber wir hatten ein Ziel. Und damit Hoffnung.
Trotzdem wurde Feli vor mir langsamer und blieb schließlich stehen. „Was ist los?“, fragte ich und schloss zu ihr auf.
„Ich kann nicht mehr,“ hauchte sie.
Ich biss die Zähne zusammen. „Du willst aufgeben? So kurz vor dem Ziel?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Worte fast gefaucht klangen. „Nein, so leicht kommst du mir jetzt nicht davon!“
„Laura, ich kann nicht mehr! Mann, mir ist arschkalt und meine Beine sind pures Eis!“ Ich konnte Tränen in ihren Augen glänzen sehen. „Wenn ich nicht jetzt sterbe, dann an einer Lungenentzündung...“
„Hier wird nicht gestorben,“ protestierte ich und packte Feli an den Schultern, um sie erst durch zu rütteln und dann versuchsweise durch Reibungskraft zu wärmen. „Du stirbst nicht, okay? Das lasse ich nicht zu. Und jetzt gehen wir beide weiter und finden das verdammte Schloss!“
Ich wusste nicht, woher meine Entschlossenheit kam. Doch das sie da war, beruhigte mich irgendwie. Und Feli gab auch nach. Sie heftete sich wieder an meinen Arm und zusammen schlurften wir weiter, Wind im Gesicht und Eis in den Haaren. Scheiß Kälte. Scheiß Schnee.
Und gerade als auch mich mein Mut langsam verlassen wollte, lichtete sich der Wald. Ich sah auf, um zu sehen, wo wir lang mussten. Da fiel mir das Ungetüm geradezu ins Auge. Ich rüttelte an Felis Schulter. „Hey, guck mal! Da!“
Ich zeigte mit zitterndem Arm auf das schwarz-grau emporragende Gebäude. Kahl und finster schoss es geradezu in den Himmel. Verschwommen im Schneetreiben hatte es etwas sehr furchterregendes an sich.
Feli neben mir wurde vom Frost geschüttelt und nickte leicht. Wir mussten nur noch den kurzen Weg bis zum Tor des grässlichen Schlosses gehen und dann in dessen Mauern verschwinden. Dann wären wir sicher. Irgendwie. Es musste einfach so sein.
Wir schafften es sogar bis an die Mauern des Monstrums. Dann wollten meine Knie nachgeben. Ein schweres, gusseisernes Tor versperrte uns den Zutritt. Kalt lag es zwischen uns und der Rettung. Ich lehnte mich an die raue Mauer und ließ mich zu Boden sinken. Meine Jacke zerriss am Rücken.
„Wir müssen auf uns aufmerksam machen,“ meinte Feli und ich drehte den Kopf, um zu ihr zu sehen. Sie hielt das Gitter umklammert. Ihre Beine sahen unnormal blau aus.
„Was? Nein! Der Graf bringt uns um, wenn er uns sieht!“ Ich hatte nicht vor, nach dem Marsch doch noch zu sterben. Das wäre ein wenig heldenhaftes Ende gewesen.
„Wie... Nein... Ich dachte wir suchen hier Unterschlupf!“ Feli klang empört. Oder nur erschöpft. Ich konnte das nicht mehr ganz auseinander halten.
„Der Graf ist ein Vampir! Klar, Unterschlupf ist gut. Und als Gegenleistung trinkt er unser Blut.“
„Mir ist die Gegenleistung egal, ich will JETZT was Warmes!“ Feli kam zu mir herüber und starrte auf mich herab. „Wenn du nicht da rein willst kannst du ja hier bleiben, ich jedenfalls werde mich bemerkbar machen!“
„Mach doch was du willst,“ murrte ich zurück. „Ich sterbe dann lieber einen ehrenhaften Tod und winke dir aus dem Himmel zu.“
Feli trat mit dem Fuß einen kleinen Stein weg. „Du bist dämlich! Es ist doch gar nicht gesagt, dass der Graf unser Blut will.“
„Nicht? Hat er sich etwa inzwischen den Cullens angeschlossen?“ Ich reibe mir über die Arme und bemerke, wie dämlich unsere Diskussion gerade wird.
„Mann, Laura!“ Feli ballt die Hände zu Fäusten, gibt diese angespannte Haltung aber gleich wieder auf. „Laura, komm doch einfach mit rein.“
„Warum?“, frage ich angesäuert. Ich will nach Hause.
„Hier wird nicht gestorben.“
Ich presse die Lippen aufeinander. Das waren meine Worte gewesen. Vorhin. Und jetzt waren es Felis. Und sie hatte ja Recht damit. Ich rappelte mich wieder auf. „Okay.“ Dann sah Feli zu Boden. Ich verdrehte die Augen. „Soll ich anklopfen?“
„Naja... Ich würds ja machen...“ murmelte sie. Ein Zittern durchfuhr ihren Körper.
'Schon gut, ich machs,' hätte ich gesagt, wenn nicht plötzlich eine völlig unerwartete Stimme die Situation zerstört hätte.

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