Kapitel 17 - Von Musik und Essen

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Felicitas
„Du hast dem Apotheker einfach so Opiate geklaut?!“ Fassungslos starrte ich Herbert an.
„Ja! Und dann bin ich zurück nach Hause geritten, auf mein Zimmer gegangen und habe sie mir eingeworfen. Du glaubst ja gar nicht, wie herrlich mein Vater geguckt hat, als er mich völlig neben der Spur gefunden hat. Dabei stand eine wichtige Konferenz aus,“ erklärte Herbert in gelassenem Tonfall.
Ich konnte nicht länger an mir halten. In schallendem Lachen ließ ich mich gegen die Lehne des Sofas plumpsen, die Hände auf dem Bauch liegend, weil ich schon dachte, er müsse vor Freude platzen. „Oh je, das muss ein Bild für Götter gewesen sein,“ japste ich schließlich, als ich endlich wieder zu Luft gekommen war.
„Nun ja… Angesichts dessen, dass ich meine vielleicht-Verlobte in dem Zustand natürlich nicht empfangen konnte, war Vater recht wütend. Aber die feine Dame war mir ohnehin zu sehr ihres Standes bewusst, als dass ich sie hätte mögen können.“ Das Zwinkern brachte mich erneut zum Kichern.
„Da hast du dich ja noch glücklich aus der Affäre gezogen,“ kommentierte ich, mir die Freudentränen aus den Augen wischend.
„Ja, das trifft es ziemlich genau,“ konterte Herbert und gab mir ein keckes Grinsen, das ich mit einer ausgestreckten Zunge erwiderte. Es tat gut, mit jemandem einfach ganz ungezwungen zu reden. Und einfach mal einen Kumpel zu haben, mit dem man frei heraus lachen konnte. Da vergaß man viele der Sorgen, die dieses Schloss umgaben.
Zum Beispiel die um Laura, die seit einer gefühlten Ewigkeit im Bad war. Oder eher: Die sich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gemeldet hatte.
Herbert lehnte sich vor und nahm sich sein Weinglas vom Tisch, ehe er sich mit ernsterer Miene in seinen Sessel lehnte und die züngelnden Flammen des Feuers betrachtete. „Dich bedrückt etwas, oder?“, fragte er, ohne mich anzusehen.
Ich folgte seinem Blick in die Flammen und zuckte mit den Schultern. „Ich frage mich gerade, wie es Laura wohl geht. Sie hat sich so lange nicht gemeldet.“ Ich sah auf meine Finger herab, die nervös mit dem Stoff meines Kleides spielten.
„Ihr wird es sicher gut gehen,“ beruhigte Herbert mich. Als ich aufsah, traf mein Blick auf seine weichen, graublauen Augen, die mir Wärme und Zuversicht entgegen brachten. Ich nickte stumm und sah wieder ins Feuer. Es wäre trotzdem schöner gewesen, wenn sie sich mal gemeldet hätte.
In dem Moment, als sich ein bedrücktes Schweigen auszubreiten begann, öffnete sich plötzlich schwungvoll die Tür. Ein kleiner Luftzug ging durch das Zimmer, das Feuer begehrte knisternd auf. Während es sich langsam wieder beruhigte und die schwarzen Scheite gemächlich knackten, fiel die Tür wieder ins Schloss und der Graf kam in beschwingten Schritten auf unsere Sitzecke zu.
„Guten Abend, Herbert,“ begrüßte er seinen Sohn, als er neben ihm Halt machte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und einen guten Abend auch dir, Felicitas. Wie ich sehe, unterhaltet ihr euch angeregt. Darf ich die Konversation mit meiner Anwesenheit bereichern?“ Er fragte es an Herbert gewandt, der mit einem scheinbar wissenden Lächeln nickte und auf den Sessel neben mir wies.
„Bitte Vater, setzt Euch ruhig. Ich erzählte Felicitas gerade davon, wie ich mich vor Erzébeth gerettet habe,“ klärte er seinen Vater über den Stand des Gesprächs auf, wenngleich er dabei die letzten Minuten außen vor ließ.
„Erzébeth? War das diejenige, der du völlig ohne Absicht in einem urplötzlichen Anflug von Ungeschick deinen Wein über das Kleid gegossen hast?“ Ich sah verwundert zum Grafen, dann zu Herbert. Wie viele Frauen hatte Herbert denn bereits kennen gelernt, die er hätte heiraten sollen?
„Nein, diejenige hieß Regina. Ich meine diejenige, die ich aufgrund akuter Schläfrigkeit nicht empfangen konnte.“
„Oh, das gestohlene Opium vom Apotheker. Ein gewitzter Streich, das muss ich dir heute noch lassen, auch wenn es mich rasend gemacht hat. Erzébeth wäre die wohl beste Partie für dich gewesen.“
„Ich bitte Euch, Vater. Ihr erinnert Euch nicht einmal mehr an sie. Außerdem war sie völlig desinteressiert an der Ehe. Sie hatte nur Augen für den Tratsch der Welt.“
„Zu dem du daraufhin ebenfalls gehörtest,“ gab der Graf seinem Sohn mit einem Schmunzeln zu verstehen.
Ich saß inzwischen mit hochgezogenen Augenbrauen da und begutachtete die durchaus interessante Szene, die sich mir bot. Ein völlig gelassenes Gespräch zwischen Vater und Sohn. Blieb nur die Frage… Warum war der Graf so entspannt?
„Eure Excellenz,“ setzte ich an. Zwei Augenpaare lagen sofort auf mir, was mich nervös auf dem Stoff des Sofas hin und her rutschen ließ. „Entschuldigt, falls die Frage unangebracht ist. Nur… Wie geht es Laura?“
Nun wanderte eine Augenbraue des Grafen in die Höhe. „Warum fragst du mich das?“
„Na ja, ich dachte vielleicht, Ihr seid ihr begegnet oder wüsstet vielleicht, was sie gerade macht.“
Um die Lippen des Grafen zupfte ein Lächeln. Warum lächelte er jetzt? Und warum fing Herbert kurz darauf an, sich ein Kichern zu unterdrücken? Und konnte es sein, dass die Haare des Grafen heute irgendwie… unordentlicher lagen?
Seine Stimme unterbrach meine Überlegungen. „Laura geht es gut, sie schläft momentan in ihrem Zimmer. Ich habe zuvor nach ihr gesehen,“ erklärte er.
Erleichtert atmete ich tief durch. Laura ging es gut. Das war erst einmal die Hauptsache. Blieb nur noch die Frage um die seltsam positive Laune des Grafen. „Wenn ich fragen darf,“ startete ich den Versuch, meine Neugierde zu besänftigen.
„Natürlich darfst du,“ entgegnete der Graf, ehe ich meine Frage formulieren konnte.
Ich sah nur kurz zu ihm auf, fasste meinen Mut zusammen und fuhr fort: „Wie, ehm, habt Ihr den Abend bisher verbracht?“
Wieder schmunzelte Herbert, was er mit einem Schluck aus seinem Weinglas zu vertuschen versuchte, es aber nicht konnte. Der Graf hingegen spielte in völlig lässiger Haltung mit seinen Fingernägeln. „Ich habe einige Bürokratie erledigt. Viel Schreibarbeit, eine recht nüchterne Angelegenheit.“
Für einen Moment fragte ich mich, wie nüchtern die Angelegenheit sein konnte, wenn sie einen so aufregenden Glanz in seine nicht ganz geöffneten Augen zaubern konnte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass mir die Frage danach sicher nicht erlaubt war, also biss ich mir auf die Lippe und sah wieder ins Feuer.
„Nun, Vater,“ klinkte sich Herbert wieder in das Gespräch ein, als er sich scheinbar wieder gefangen hatte – was auch immer ihn so belustigt haben mochte. „Ich würde mit Euch gerne noch ein paar Ausstehende Details zum Ball besprechen.“
Der Graf nickte. „Das trifft sich gut, ich habe nämlich noch einige Wünsche für den Ball.“
Das Gespräch, das daraufhin entstand, war mit Sicherheit nüchterner als die Büroarbeit des Grafen. Ich lehnte mich in die Lehne des Sofas, trank hin und wieder einen Schluck aus meinem Weinglas und beobachtete das Feuer, während ich den Themen der Unterhaltung lauschte.
„Wie sieht es mit Dekoration aus?“, fragte Herbert.
„Das Übliche. Ein paar Kerzen, mehr nicht. Der Saal hat ausreichend Atmosphäre, um seinen Charme zu präsentieren.“
„Wie sieht es mit der musikalischen Begleitung aus?“
Der Graf legte die Fingerkuppen aneinander. „Stell einige der Schlossbewohner dafür ab. Und besorge neben den üblichen Schreittänzen und Walzern auch moderne Stücke. Du weißt schon… Haydn oder Mozart.“
Ich sah einen Moment perplex auf. Mozart… modern? Das ließ zumindest erahnen, in welcher Epoche wir uns gerade befanden. Das war doch... – Ich kam nicht drauf. Vielleicht hätte ich in der Schule lieber aufpassen sollen, statt mit meinem Ex zu schreiben.
„Mozarts Klavierquintett Es-Dur?“, schlug Herbert vor und notierte sich etwas in einem kleinen Heftchen, das er zuvor vom Tisch aufgenommen hatte.
„Meinetwegen.“ Viel Begeisterung hegte der Graf für das Stück nicht. Ich bezweifelte, dass er sich überhaupt dessen Namen merken würde.
Herbert schien meinen Blick auf seinen Vater bemerkt zu haben. „Du musst wissen, Felicitas… Er mag die modernen Klänge nicht allzu sehr. Er lässt sie nur spielen, um nicht gänzlich als in der Zeit stecken geblieben zu gelten.“ Um Herberts Lippen zuckte ein Schmunzeln, das sich auch in meinem Gesicht widerspiegelte.
Der Graf setzte zu seiner Verteidigung an. „Man muss nicht alles für gut erachten, was einige Querdenker in letzter Zeit zustande bringen.“
„Aber der breiten Masse gefällt die Musik,“ hielt Herbert dagegen.
„Zum Glück gehöre ich nicht dieser Masse an, sondern bilde meine Meinung noch höchst selbst.“
Ich fragte mich, ob Vater und Sohn immer auf diese Art und Weise miteinander sprachen. Wenn ja, dann konnte das Leben eines Vampirs gar nicht so einfältig und langweilig sein, wie einem immer vermittelt wurde. Und eigentlich konnte es dann doch auch nicht so einsam sein…
„Liegen sonst noch Unklarheiten vor?“, fragte der Graf nach einer kurzen Weile, in der Herbert sich eifrige Notizen gemacht hatte.
„Nein, ich denke nicht,“ antwortete der und klappte das kleine Buch wieder zu.
Etwas zögerlich hob ich dagegen die Hand. Immerhin wurde doch das wichtigste Thema außen vor gelassen, oder nicht? Die hochgezogene Augenbraue des Grafen war wohl ein Zeichen, dass ich sprechen durfte. „Was gibt es denn zu essen?“, gab ich den Worten schließlich eine Stimme, wenngleich sie dünner als erwartet klang.
Der Graf schmunzelte. „Natürlich, es wird ein Festmahl geben,“ meinte er in einem Ton, der mir nicht behagte.
Ein Festmahl… das war doch eigentlich gut, oder? Aber die Betonung, mit der er es gesagt hatte… Etwas daran klang wie eine Drohung… und gleichzeitig wie eine innige Vorfreude.
Als mich schließlich die Erkenntnis packte, hatte ich Mühe, mich nicht zu verraten. Verdammt! Das war DER Mitternachtsball. Der Ball, auf den der Graf seine menschlichen Gäste einlud. Der Ball, an dem er Sarah gebissen hatte. Oder beißen würde… die Handlung aus dem Musical spielte  ja eigentlich erst später.
Perplex saß ich auf dem Sofa, starrte auf den Tisch in der Mitte der Sitzecke und hielt mir den Magen, der plötzlich heftig protestierte. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte kein Festmahl sein. Eigentlich wollte ich nur dem Grafen nahe sein, ein wenig mit ihm tanzen und dann nach Hause. Ich wollte zu meiner Mutter zurück. Ich wollte zu meinem Frettchen.
Die Wucht des Heimwehs traf mich so hart, dass ich für einen Moment die Augen schloss, um die darin brennenden Tränen zu unterdrücken. Warum war das Leben nur so unfair?
Ich musste doch geschluchzt haben, denn als ich wieder aufsah, waren Herberts Augen ebenso wie die des Grafen auf mich gerichtet. Es war letzterer, der schließlich die drückende Stille brach. „Felicitas, dir geht es nicht gut. Es ist wohl besser, ich bringe dich ins Bett. In Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde brauchst du sicher ein wenig Ruhe.“
Ich sah erst kurz zum Grafen, dann zu seinem Sohn, der mir milde zunickte. Dann nickte ich auch, ließ es zu, dass Herberts Vater mir auf half, mir seinen Arm anbot, in den ich mich einhakte, und mich schließlich aus dem Kaminzimmer heraus und durch die Korridore bis zu meinem Zimmer führte.
Dort angekommen blieben wir vor der Tür stehen. Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich jetzt tun sollte. Im nächsten zog der Graf mich völlig überraschend an sich, sodass mir sein maskuliner Duft in die Nase stieg. In der Umarmung gefangen, die sich unheimlich gut anfühlte, stand ich da, während er sacht über meinen Rücken und meine Haare strich. Kleine Schauer des Glücks durchliefen meinen Körper. Ich wusste nicht, wann der Zeitpunkt gewesen war, an dem ich so wechselhaft geworden war. Doch ich genoss es.
Und dann lagen plötzlich zwei Finger an meinem Kinn, hoben es vorsichtig an und sorgten somit dafür, dass einen Wimpernschlag später seine Lippen auf meinen lagen.
Durch meinen Körper liefen heiße Schauer. Meine Atmung beschleunigte sich. Ich konnte nicht einmal verhindern, dass die Röte in mein Gesicht schoss. Als er sich dann viel zu früh von meinen Lippen löste, ließ er eine meiner Strähnen durch seine Finger gleiten.
„Ich wünsche dir eine erholsame Nachtruhe, Felicitas.“ Sein Blick war so unglaublich weich und sanft. Fast sogar liebevoll. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken, als er seine Lippen an mein Ohr legte und mir leise zuraunte: „Ich freue mich bereits, dich morgen wieder zu sehen.“
Dann richtete er sich wieder auf, betrachtete mich noch einen Moment mit diesem unglaublich zärtlichen Blick und wandte sich dann ab, die Korridore zurück schreitend, bis er aus meinem Blickfeld verschwand.
Ich blieb zurück an meiner Tür, völlig perplex und überrumpelt, aber unendlich glücklich. Und nur eine Frage schwirrte in meinem Kopf: Wie schaffte es der Graf, mich mit nur einem Kuss alle Sorgen und Sehnsüchte vergessen zu lassen?

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