Kapitel 20 - Der Mitternachtsball

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Immer wieder trommelten meine Fingerkuppen auf das Holz des klobigen Schreibtisches, der nach wie vor neben meinem Bett stand. Zum wohl hundertsten Mal interpretierte ich den Rhythmus von „Gangnam Style“. Ein besseres Lied wollte mir ironischer Weise beim besten Willen nicht einfallen. Seltsames Schicksal…
Dieses Lied war es gewesen, das uns die Realität dieses Alptraums erst wirklich hat bewusst werden lassen. Es hatte uns in den vergangenen Tagen irgendwie begleitet… und nun? Nun bekam ich es nicht mehr aus dem Kopf. Und es erinnerte mich mit jeder verstrichenen Sekunde an das, was uns widerfahren war. Der Theaterbesuch, der Sturm, die erste Nacht auf diesem Schloss… die Probleme des Grafen mit seinem Umhang, seine Stimme in meinem Kopf und der Ausritt zum zweithöchsten Punkt der Grafschaft. Und verdammt, ich erinnerte mich noch besser an seine Fürsorge, an die Ruhe, die er in seltenen Momenten ausstrahlen konnte und an die Leidenschaft, die er mit mir geteilt hatte.
Das alles machte es nicht leichter, in diesem Zimmer zu hocken und der Dinge zu harren, die im Ballsaal gerade von statten gingen. Das schlimmste noch: Die leise bis zu mir plätschernde Musik brachte es nicht fertig, die Dauerschleife von Psy zu durchbrechen. Im Gegenteil – sie wirkte viel mehr verstärkend.
Ich stand von dem ergrauten Stuhl auf, schob ihn knirschend wieder zurück unter den Tisch und blieb ratlos stehen. Dann ging ich zwei Schritte zu meinem Bett herüber, strich vorsichtig über den Baldachin, ließ ihn durch meine Finger gleiten… und schließlich weder fallen. Ich ging zu der Verbindungstür und hob die Hand zum Anklopfen, ließ sie jedoch wieder sinken. Feli war ja gar nicht da. Ob ich einfach in ihr Zimmer gehen konnte? Ich ließ es lieber bleiben.
Stattdessen ging ich zum Fenster und schob den halb zugezogenen Vorhang zur Seite. Ich erkannte nicht viel mehr, als mein eigenes Spiegelbild, das mir trübe entgegen blickte. Meine Haare lagen längst nicht mehr wie sie sollten. Unter meinen Augen erkannte man deutliche Augenringe. Ich glaubte, zwischen meinen Augenbrauen diese Sorgenfalte zu erkennen…
Was hatte die Zeit auf dem Schloss nur mit mir gemacht? Ich fühlte mich längst nicht mehr so wie früher. So unbeschwert, so lebensfroh… Jetzt war ich von Sorgen erfüllt. Was würde mir die Nacht bringen? Was würde mein Morgen sein? Würde es ein Morgen geben?
Ich spürte, wie mir eine Träne an der Wange hinab rann. Doch das schlimmste war der trostlose Blick, den ich mir selbst entgegen warf. Ich schlug die Hände vors Gesicht. Schluchzend lehnte ich am Fensterrahmen. Ich bemerkte gar nicht, wie sehr mich die Verzweiflung schüttelte. Ich bemerkte nicht, dass die Ärmel meines Kleides feucht von meinen Tränen wurden. Ich ließ alles raus, was mich die letzten Tage über belastet hatte. Und zum Teufel! – Da hatte sich einiges angesammelt.
Die Musik im Ballsaal endete nach einer gefühlten Ewigkeit für einige Sekunden. Wahrscheinlich wechselten jetzt die Tanzpartner. Dann setzte ein neues Stück ein. Drei-Drittel-Takt. Ein Walzer wahrscheinlich. Und Feli würde in den Armen des Grafen durch den Saal schweben.
Ich schniefte ein letztes Mal und wischte mir die Tränen von den geröteten Augen. Als ich wieder nach draußen sah, lugte der Mond ein Stück weit durch die schwarzen, hoch aufragenden Wolken hindurch. Der Schnee unter dem Schloss glänzte silbrig. In meinem Kopf formte sich ein seltsamer Gedanke. Kein wirklicher Gedanke, sondern eher ein Gefühl. Eine Sehnsucht… Der Drang, aus meinen Fesseln auszubrechen und frei zu sein. Nach draußen zu gehen und alles zu vergessen. Mich in den Schnee zu schmeißen, die Kälte zu spüren und aufzuwachen. Ich hegte diese Hoffnung noch immer tief in mir. Und ich war zu verzweifelt, als dass ich sie hätte verwerfen können.
Ich strich mir durchs Haar und straffte die Schultern. Ich würde hier raus kommen… Wer brauchte schon einen Grafen? Wer brauchte diesen ganzen Horror? Ich hatte eine Familie. Und ich würde alles tun, um sie nicht zu verlieren.
Und Feli?
Ich verfluchte mein Gewissen für diesen verräterischen Gedanken! Ich wusste, dass auch sie Familie hatte. Ich wusste verdammt noch mal auch, dass sie sie ebenso sehr vermisste wie ich. Vielleicht würde ich sie doch noch überreden können. Jetzt, da sie mit dem Grafen getanzt hatte. Ich müsste nur kurz in den Saal hinein spähen, ihr nur einen Blick senden. Sie würde verstehen, das wusste ich. Und dann gäbe es nichts mehr zwischen uns und der Normalität!
Ich raffte die Röcke und durchquerte den Raum mit zügigen, großen Schritten. Und der Graf? Ich wusste, dass sich dieser Mistkerl in den letzten paar Tagen in mein Herz geschlichen hatte, auch wenn ich mich glücklicherweise an meinen Verstand klammern konnte, der das alles hier für absurd erklärte und mir einen letzten Funken Hoffnung auf Realität bewahrte. Dennoch war ich mir nicht sicher, was geschehen würde. Würde ich ihn vermissen? Würde ich ihn vergessen? Würde er für mich einfach nicht mehr existieren, sobald ich zurück war? Ich war überzeugt davon, dass dies für alle Beteiligten das Einfachste gewesen wäre…
Vielleicht konnte ich auch auf ihn noch einen letzten Blick erhaschen… wenn ich nach Feli suchen würde. Vielleicht würde ich ihn mit eleganten, vor Leichtigkeit strotzenden Bewegungen über die Tanzfläche gleiten sehen? Vielleicht würde ich auch einen Moment zu lange hinsehen. Ich sollte es lieber nicht riskieren. Zu groß war die Gefahr, dass etwas schief ging. Dabei war das hier die wohl letzte Gelegenheit zu fliehen. Der letzte Schritt vor dem Abgrund, bevor mich der Vampir für immer vereinnahmen und in seinen Händen halten würde. Und gerade jetzt waren alle Schlossbewohner beim Ball. Niemand war in den Gängen, der mich würde aufhalten können. Ich musste es jetzt versuchen…
Ich hastete geradezu die Treppe zur Eingangshalle hinunter. Die Arme hatte ich um die Schultern geschlungen, so sehr fröstelte ich bereits hier. Wie ich den Schnee überstehen wollte? Ich wusste es nicht. Ich hoffte einfach darauf, dass ich es schaffen würde.
Unten angekommen durchmaß ich mit großen Schritten die Empfangshalle. Meine Schritte hallten von den Wänden wider, was mich langsamer werden ließ. Sollte ich tatsächlich in den Saal schauen? Sollte ich riskieren, dass meine Flucht vereitelt wurde? Feli wollte immerhin hier bleiben… Sie liebte den Grafen, das war mir bewusst. Schmerzlicher Weise wusste ich jedoch auch, dass er sie nicht liebte, es nie tun würde.
Und doch musste ich hinein spähen. Ich musste ihn noch einmal sehen. Seine Arroganz, seine hoheitliche Haltung. Ich wollte seine helle Haut sehen und die dunklen Schatten um seine leuchtend blauen Augen.
Vorsichtig überwand ich die letzte Distanz zur jener Tür, die mich noch vom Ball trennte. Mir fiel eine Uhr in Hintergrund auf… Es war noch nicht weit nach Mitternacht. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann legte ich meine Hand auf den Türknauf, drehte ihn und erntete ein leises Klicken. Mit leichtem Zug öffnete sich dann auch die rechte Seite der edel verzierten Flügeltür.
Die Musik schlug mir sofort um einiges lauter entgegen. Ich sah skurrile Personen verschiedener Stil-Epochen an mir vorbei tanzen. Irgendwo in einer Ecke des Raumes meinte ich Herbert an einem Klavier sitzen zu sehen. Er spielte gerade die letzten Töne. Ich lauschte ihnen, wie sie ebenso melodisch wie unheilvoll im Raum verklangen. Dann trat alles durchdringende Stille ein, die mir das Herz schwer werden ließ. Plötzlich war alles so seltsam… Die Luft schien dick und pulsierend. Das Schwarz der Schatten wurde intensiver. Die ganze Atmosphäre wandelte sich in ein gefährliches Monster, das seine Fühler ausstreckte, das nächste Opfer suchend.
Die Menge der anwesenden Personen teilte sich auf. Eine Hälfte platzierte sich am linken Ende des Saals, die andere am rechten. Ich hatte nun eine beinahe ausgezeichnete Sicht auf das Zentrum des Raumes. Und dort… leider! ... stand der Graf. Stoisch, herrschend, in zeitlosem Schwarz gekleidet. Er bedachte seine Gäste mit überlegener Geste. Ein wenig hinter ihm stand jetzt Herbert, herausgeputzt in strahlend weißem Anzug. Er wirkte traurig. Als bedaure er die plötzliche Wendung des Abends. Der Graf streckte seine Hand zur Seite aus. Die Geste zog meine Aufmerksamkeit zurück auf ihn. Und auf die Hand, die sich in seine legte.
Feli war zu ihm getreten. Strahlend und glücklich. Ich konnte den warmen Glanz in ihren Augen sehen. Sie waren so lebensfroh im Gegensatz zu denen des Grafen, die nur kalt und voller düsterer Vorfreude zu ihr herab sahen. Mir schauderte es bei seinem Blick.
Und dann zog er sie besitzergreifend zu sich herum. Feli stolperte ihm entgegen. Ihr Gesicht zeigte Überraschung – und doch Freude. Der Graf hielt sie fest in seinen Armen. Er streichelte ihr sanft über die Wange, schob eine wirre Strähne lächelnd zurück hinter ihr Ohr. Dann griff er mit der linken Hand in ihren Nacken.
Feli starrte ihn plötzlich entsetzt an.
Er zog ihren Kopf zur Seite. Mit der rechten Hand hinderte er sie an Gegenwehr.
Seine Fangzähne blitzten gefährlich im Kerzenschein.
Und dann schlug er sie in Felis Hals.
Sie schrie spitz auf. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um nicht selbiges zu tun. Entsetzt starrte ich in völliger Lähmung auf die sich mir darbietende Szene. Ich sah Feli, wie sie sich in seinen Armen wand. Er hielt sie in festem Griff, drehte sich ein Stück weit um die eigene Achse. So weit, dass ich direkt in Felis Augen sehen konnte. Fassungslosigkeit schlug mir entgegen. Ein stummer Hilferuf, den Mund aufgerissen, doch nicht fähig, einen Laut zu äußern. Ich wimmerte kopfschüttelnd auf.
Der Graf löste seinen Biss, Felis Lider flatterten. Ich schluchzte. Dann rannte ich.
Völlig kopflos stürmte ich los. Mit tränenverschleiertem Blick stürzte ich zum Portal, riss an den schweren Türen. Ich hörte hinter mir ein tiefes Grollen. Ich hörte Feli erneut schreien. Übelkeit übermannte mich. Wie konnte ich jetzt nur weglaufen? Wie konnte ich sie alleine lassen? Doch kaum dass die Tür sich öffnete, schlüpfte ich durch den Spalt.
Kälte schlug mir entgegen, wie ein Brett ins Gesicht. Wind und Schnee wirbelten um mich herum. Ich schlang mir die Arme um den Körper und stolperte voraus. Ich sah nicht wohin, ich ging einfach weiter. Ich musste hier raus! Diese Irren würden mich umbringen! Sie hatten Feli ja schon ermordet! Wie hatte ich nur vergessen können, wer ER war?!
Ich schrie in die Nacht und lief weiter, stieß mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, das Hoftor auf und stürmte weiter. Der Schnee war tief. Er bremste mich, doch mein Instinkt trieb mich voran. Weder Steine noch Äste konnten mich aufhalten. Ich hatte den Weg längst verlassen, das wusste ich. Doch ich musste weiter. Es gab keinen anderen Ausweg für mich.
Hinter mir ertönte erneut ein Grollen, dazu das Knacken von Ästen. Ich versuchte schneller zu laufen, doch ich konnte nicht. Ich konnte nicht mehr. Mir schlug das Herz bis in den Hals. Mein Magen krampfte sich unablässig zusammen. Tränen verschleierten meine Sicht. Und irgendwo in mir regte sich der Drang, einfach aufzugeben. Mich dem Grafen zu überlassen, ihm mein Schicksal anzuvertrauen.
In diesem Moment traf mein Fuß auf einen Widerstand. Ich blieb hängen. Eine Wurzel… oder ein Stein. Mein Gesicht versank im Schnee. Kälte rieselte in meinen Nacken. Für einen Augenblick war ich wie betäubt, gelähmt vom Schock. Dann rappelte ich mich auf, kam zurück auf die Knie und kroch weiter, den Grafen im Nacken. Ich konnte ihn spüren, seine unheilvolle Aura. Der Ganze Wald wurde schwärzer, je näher er kam.
Er war verdammt nahe.
Und dann das Knurren, direkt hinter mir. Ich stockte, traute mich nicht, einen Blick zurück zu wagen. Und doch drehte ich mich um, sah den hell leuchtenden Augen entgegen. Ich sah in ein Feuer, das zerstörerischer nicht hätte sein können. Völlig perplex kroch ich rückwärts, als er einen Schritt auf mich zu machte. Über und schlug der Donner wie ein Schlag ein. Ich wusste, das hier war mein Ende. Ich wusste, es gäbe keinen Ausweg.
Als ich auf etwas hartes, Unnachgiebiges traf, schloss ich die Augen. Dies war nun also mein letzter Augenblick im Leben. Ich sah der Bestie entgegen, die mich töten würde.
Als ich die Augen endlich wieder öffnete, erkannte ich ihn. Er stand nicht weit von mir. Seine Haare und sein Umhang wehten aufgebläht im Wind. Schnee tanzte um ihn herum. Die langen Fangzähne verzerrten sein Gesicht zu einer skurrilen Maske, mit Blut verziert. Felis Blut. Er fauchte und stürzte mir entgegen. Ich sah den Willen in seinen Augen, mich um zu bringen.
Und dann war nichts mehr da, außer gleißenden Lichts. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen in die grelle Energie, spürte sie um mich herum pulsieren. Ich fühlte mich frei und schwerelos. So unbeschwert… So friedlich. War das der Tod? Hatte der Mann, den ich liebte, mich umgebracht?
Ich hörte, wie jemand aus weiter Ferne mit meiner Stimme schrie. Ich sah ein letztes Mal schemenhaft das Gesicht des Grafen. Dann war auch die Helligkeit vergangen und nichts blieb mehr, als die mich umhüllende und wohlig behütende Dunkelheit, der ich mich nur allzu willig hingab.

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