Kapitel 11 - Manupilation

91 6 0
                                    


Felicitas

Die ganze Nacht konnte ich seine Augen betrachten. Diese blauen Augen, die gleichzeitig verträumt, geistesabwesend, kalt und undurchdringlich wirkten. Gläsern irgendwie, oder aus einer ganz eigenen Art Kristall.
Und wie das Feuer in ihnen funkelte. Die Flammen spiegelten sich als winzige Punkte wider, die Funken stoben zu unzähligen Sternen auseinander. Ein ganzes Universum lag in seinem Blick, versunken in unendlicher Leere. Umrahmt von dunklen Schatten und leicht geröteten Unterlidern.
Ich konnte nicht anders, als zu seufzen. Heimlich, damit er nicht bemerkte, wie sehr ich ihn anstarrte. Es wäre mir irgendwie unangenehm, würde er es tun. Ich würde mich ertappt fühlen. Doch andererseits waren diese hübschen Augen die Reue wert, die ich empfinden würde, richteten sie sich auf mich.
Unwillkürlich wanderte mein Blick von seinen Augen zu seinen Wangenknochen, die so unglaublich elegant die dunklen Augenhöhlen begrenzten. Sie wirkten aristokratisch. Hoch angesetzt, kantig geschnitten, jedoch ohne dabei grob zu erscheinen. Ebenso die Nasenlinie. Nicht zu fein, nicht zu markant. Edel jedoch allemal. Und erst die Lippen...
Schmal lagen sie aufeinander, glänzten minimal im Schein der Flammen. Bei diesem Licht wirkten sie dunkler, als sie waren. Fast so dunkel wie die Augenhöhlen. Im Moment sahen sie verbissen aus, irgendwie fest und unnachgiebig. In Stein gemeißelt, so perfekt waren sie geformt. Ob sie wohl auch weich sein konnten? Wie würde es sich anfühlen, diese Lippen zu berühren? Wie würden sie schmecken?
Seine Mundwinkel zuckten geringfügig. Die kleine Bewegung riss mich aus meinen Gedanken. Ertappt sah ich zu meinem Glas herab, das gefüllt auf dem Tisch stand. Der rote Wein erschien mir plötzlich wie Blut. Vor meinem inneren Auge erschien ein Bild. Seine Lippen, lächelnd, wie Blut aus den Winkeln rann und seine Zähne rot glänzten. Zu meiner Überraschung machte mir das keine Angst. Stattdessen lächelte ich. Wenn ich ihn nur einmal küssen könnte, wäre es das wert.
„Was amüsiert dich so?" Die sanfte Stimme des Grafen ließ mich aufsehen. Röte stieg mir in die Wangen. Er saß lässig wie eh und je in seinem Sessel, betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte.
Ich konnte nicht von seinen Augen wegsehen. „Nur so ein Gedanke, der mir in den Kopf kam," erklärte ich.
Er lächelte für einen kurzen Augenblick. „Ein Gedanke also." Ins Feuer schauend zog er die Augenbrauen hoch, sodass sich kleine Fältchen auf seiner Stirn bildeten. Sein Gesicht wirkte so viel heller, viel freundlicher. Sogar ein wenig jünger. „Was geht dir denn gerade durch den Kopf?"
Wieder stieg Wärme in meine Wangen. „So einiges." Der Graf lächelte versöhnlich und schwieg. Wahrscheinlich wartete er auf eine Fortsetzung. Aber was sollte ich sagen? „Ich denke gerade daran, dass mir der Wein zu Kopf steigt. Und daran, wie beruhigend das Feuer knistert. Ich habe früher mit meinen Eltern immer Ausflüge gemacht. Über mehrere Tage. Abends haben wir dann ein Lagerfeuer aufgeschlagen und Lieder gesungen. Irgendwie vermisse ich die Zeit." Während ich nun auch in das Feuer starrte, spürte ich eine gewisse Traurigkeit in mir. Die Sehnsucht nach damals, als alles noch so einfach gewesen war. Doch je länger ich in die Flammen sah, desto ruhiger wurde ich. Und desto wohler fühlte ich mich. Irgendwie geborgen, weil es mich an damals erinnerte.
„Ich weiß noch, als von meinem Vater die Gitarre fast Feuer gefangen hatte, weil es so kalt war und wir ganz nah an die Flammen herangerutscht waren," meinte ich mit einem Lächeln. „Mama hat so schrill geschrien und Wasser auf Papa gekippt. Sein ganzer Pullover war nass gewesen. Und das Feuer war aus gegangen. Wir haben fast die halbe Nacht gebraucht, bis es wieder an ging."
„Ein schönes Erlebnis," bekundete der Graf. Ich achtete gerade gar nicht so sehr auf ihn. So fiel mir auch nicht auf, dass er aufgestanden und zum Fenster gegangen war.
„Ja, das war es," murmelte ich. „Ich denke oft daran, wenn ich meinen Vater vermisse. Er ist so oft unterwegs und kommt nur an den Wochenenden nach Hause. Aber selbst da sehen wir uns kaum noch."
„Das ist bedauerlich." Seine dunkle Stimme schien mir plötzlich näher, erklang samtig direkt neben mir. „Erzähle mir doch noch ein wenig von dir," forderte er sanft. „Ich weiß so wenig von dir, dabei bist du mein Gast. Ich könnte besser auf deine Wünsche eingehen, wenn ich dich besser einschätzen kann," erklärte er und ging mit seinem Glas gemächlich um die Couch herum, bis er fast vor mir stand. „Darf ich mich zu dir setzen?"
„Ja, sicher," gab ich ein wenig zu eilig zurück. Meine Augen musterten die eleganten Bewegungen, mit denen er sich setzte. Seine ganze Ausstrahlung war von einer faszinierenden Erhabenheit durchtränkt.
„Du beobachtest gerne die Menschen in deiner Umgebung, nicht wahr?" Ich sah verwundert in seine Augen, ehe ich peinlich berührt den Blick senkte. „Das braucht dir nicht unangenehm zu sein. Die Menschen zu beobachten ist oft aufschlussreicher als ein blindes Gespräch, nicht wahr?" Mir wurde warm im Gesicht, als ich das Weinglas in seinen Händen fixierte. Die Flüssigkeit darin sah dunkler aus, doch das konnte auch Einbildung sein. Immerhin tranken wir doch aus derselben Flasche, oder nicht?
Anscheinend war mein Denkvermögen auf seine langsamste Stufe zurückgesetzt. Denn etwas Kühles an meinem Kinn riss mich aus meinen Träumereien. Erst beim zweiten Gedanken erkannte ich, dass es Finger waren, die meinen Kopf bereits vorsichtig empor hoben. Zu perplex, um vernünftig zu sein – und vom Alkohol allmählich benebelt – ließ ich es geschehen. Und sah dem Grafen wieder ins Gesicht.
„Guck mich an, und sag mir, was du siehst." Seine Finger ließen mein Kinn wieder los. Im selben Moment vermisste ich die Berührung. Verwirrt sah ich in seine Augen, die mir nichts von seinem Vorhaben verrieten. Erst sein abwartender Blick brachte mich einen Moment später zum grübeln.
„Ich weiß nicht," setzte ich an. Was sollte ich schon sagen?
„Nur keine Scheu, Felicitas. Ich halte still, während du dein Urteil fällst." Sein Lächeln hatte etwas unbeschreiblich Angenehmes an sich.
Dennoch konnte ich nicht aussprechen, was in meinem Kopf wirr durcheinander flog. Ein attraktiver Mann. Hübsche Wangenknochen. Augen wie Kristalle. Diese elegant lässige Haltung. Diese Überlegenheit. Der Charme. Dieses Lächeln. Das wunderschöne Lächeln.
Ehe ich meine Gedanken ordnen konnte, sah ich ihn eine Hand heben. Kurz darauf lag sie an meiner Wange und strich mit dem Daumen sachte über meine Schläfe. „Der Alkohol hat dir tatsächlich zugesetzt." Er sah so friedlich aus in diesem Moment. Er wirkte so vorsichtig, so behutsam. „Du solltest dich ein wenig ausruhen."
„Ich hab Kopfschmerzen," hörte ich mich plötzlich sagen. Erst jetzt fiel mir das Wummern an den Schläfen auf.
„Ich kann dir helfen. Dreh dich mit dem Rücken zu mir und versuch, dich zu entspannen."
Ich tat wie mir geheißen und rutschte auf dem Sofa herum. Noch während ich abwartend in das Feuer sah, legten sich zwei Hände an meinen Kopf, die Daumen hinter den Ohren, die Fingerkuppen auf meinen Schläfen, wo sie leichten Druck ausübten.
Das Wummern blieb für einen Augenblick, wurde sogar noch ein wenig stärker, ehe es tatsächlich abebbte. Gemächlich, langsam. Stück für Stück verschwand es aus meiner Wahrnehmung und eine tiefgehende Entspannung trat an seine Stelle. Ich bemerkte gar nicht, wie alles in mir sich lockerte und ich schließlich dem Grafen entgegen sank, der mir unbewusst als Kopfkissen diente.
„So ist es gut," drang seine sonore Stimme an mein Ohr. „Felicitas..."
„Hm," murmelte ich, weit weg von allem Stress und Heimweh, die mir seit Tagen in den Knochen hockten.
„Ich würde mich freuen, wenn du an meinem Mitternachtsball teilnehmen würdest. Das Fest wäre nicht vollkommen, ohne deine strahlende Persönlichkeit."
Mein Puls beschleunigte sich für einen Augenblick. Freude stieg mir in den Kopf, Euphorie drang in meinen Geist, umringt von undurchdringlichem Nebel. Ich murmelte einen zustimmenden Laut, formte noch so etwas wie 'gerne' mit meinen Lippen. Dann schwappte eine Woge grauer Schleier über mich, verdunkelte meinen Horizont und ließ mich im Zwielicht zurück. Sicher und geborgen. Kalt und allein.

Zukunft ist VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt