Kapitel 8 - Verfluchte Umhänge

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Erleichtert atmete ich aus. Ich hatte schon wieder Kopfschmerzen. Wahrscheinlich erste Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs, ich wusste es nicht. Statt mich aber selbst zu bemitleiden ging ich ins Bad, legte meine neue Unterwäsche auf einen Hocker neben der blank geputzten Badewanne und ging zu einem kleinen Regal mit Duftölen. Es wunderte mich, dass dieser Raum so gepflegt war, während die Gemächer von Staub nur so wimmelten. Doch mir sollte es recht sein. Zumindest hier hatte ich ein hygienisches Gefühl.
Ich nahm mir ein Fläschchen mit zartblauem Inhalt. Lavendel. Eine kleine Pfütze der Flüssigkeit träufelte ich in die Wanne. Danach ging ich in den hinten angrenzenden Haushaltsraum, wo ein Feuer über verkohlten Holzscheiten knisterte. Ich füllte einen Metallkübel mit Pumpenwasser und hängte ihn in die dafür vorgesehene Halterung über dem Feuer.
Eine halbe Stunde später hatte ich so ganze drei Kübel erhitzt und in die Wanne gegossen. Das Wasser dampfte. Der Lavendel-Duft erfüllte bereits den ganzen Raum. Zufrieden atmete ich durch, zog mein Unterhemd aus und stieg vorsichtig in das heiße Nass.
Die Wärme prickelte auf meiner Haut. Zuerst umschloss sie meine Waden, dann meine Hüften und hüllte schließlich meinen ganzen Körper in angenehme Hitze. Auf meinen Unterarmen breitete sich eine Gänsehaut aus. Ich ließ mich noch tiefer ins Wasser gleiten, bis es mir kurz unter das Kinn stand.
Seufzend schloss ich die Augen. Was für ein beschissener Tag.
Man wachte in den Fängen eines Vampirs auf, begriff, wie todgeweiht man doch war und die einzig rettende Flucht wurde von der Leidensgenossin vereitelt. Wobei die ja nicht einmal bemerkte, in was für einer Gefahr sie schwebte. Ging ja nur um ihr Leben. Wenn es mehr nicht war...
Ich schüttelte den Kopf. Konnte Feli weiter als vor ihre eigenen Füße denken? Sie war so blind! Als wenn der Graf an irgendwem von uns Interesse haben würde. Dem ging es doch nur darum, zwei Portionen Frischblut warm zu halten. Wahrscheinlich würde ohnehin demnächst so ein bescheuerter Mitternachtsball sein. Dann durften wir uns hübsch anziehen, wie die Puppen in seinen Armen tanzen und schließlich würden seine spitzen Zähne in unserem Hals landen. Aber warum sollte man seinem Tod entgehen, wenn man sich doch geliebt fühlen würde. Das Schaf fraß ja immerhin auch aus der Hand des Schlachters.
Mit meinem Finger malte ich Kreise ins Wasser. Mein Handrücken glänzte nass. Weißer Dampf wand sich in der Luft. Gegenüber Feli kam ich mir immer ein wenig blass vor. Sie war so braun vom Solarium. Ich hatte nur noch den Rest Sommerbräune auf der Haut. Doch selbst die ließ mich neben dem Grafen wie eine Bäuerin aussehen.
Meine Hand hielt einen Moment inne. Ich starrte auf den Dampf, dann holte ich Luft und ließ mich ganz unter Wasser sinken. Wärme schwappte über meinem Kopf zusammen. Da Lavendelaroma umhüllte mich ganz. Mit einer Hand wuschelte ich mir durch die Haare, bis sie sich wieder weicher anfühlten. Mit der anderen drückte ich mich am Wannenrand weiter unter Wasser.
Erst als mir die Luft knapp wurde tauchte ich wieder auf. Meine Hände fuhren über meine brennenden Augen. Für einen Augenblick blieb ich so liegen, mit abgedunkeltem Sichtfeld, umschlossen von der Hitze. Dann schlang ich die Arme um mich und stellte mir vor zuhause zu sein. In meinem warmen Bett zu liegen, aus meinem Fenster zu gucken und den Wolken beim Vorbeiziehen zuzusehen. Ich stellte mir vor, meinen Wecker auf dem kleinen Nachttisch neben meinem Bett ticken zu hören. Und den Geruch von Mamas Kuchen, den sie immer für Tante Margarethe backt. Ich glaubte schon die kleinen Schokoflocken zu schmecken, die sie immer rauf streut. Ihre mahnenden Worte, ich solle den warmen Teig nicht naschen, klangen in meinen Ohren.
Doch ehe ich den ab gepulten Krümel in meinen Mund stecken konnte fing ich an zu zittern. Ich schlang die Arme enger um mich, doch die Kälte ließ nicht nach, brachte mich zum frösteln. Der Traum verblasste langsam. Als ich die Augen öffnete, konnte ich nicht einmal mehr sagen, wie Mamas Stimme geklungen hatte. Ich erinnerte mich nicht daran.
Ich blinzelte das Brennen in den Augen weg und stieg aus der Wanne. Ich schnappte mir ein Handtuch aus dem nebenstehenden Schrank und schlang es mir um. Dann klaubte ich noch ein kleineres aus einer Schublade und rubbelte mir damit durch die Haare.
Aus meinem Augenwinkel stahl sich doch eine Träne. Schniefend ließ ich das Handtuch sinken. Scheiße. Es war doch alles scheiße. Das Schloss war scheiße, der Graf war scheiße, Feli war scheiße... Diese ganze Zeitreise war ein einziger Haufen Scheiße. Ich feuerte das Handtuch auf den Boden und ging zu einem der großen Spiegel an den Wänden.
Mein Zwilling dort erschreckte mich ein wenig. Die Augen waren gerötet, unter ihnen hingen dunkle Schatten. Auf der Stirn waren einige Unebenheiten zu sehen, die wohl zu Pickeln werden wollten. Meine Haare lockten sich völlig unkontrolliert und nicht der Frisur entsprechend. Die Lippen waren rau und die Nase ebenfalls leicht rot.
Ich ließ die Schultern hängen. Ein tolles Bild gab ich da ab. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Auch wenn Feli stur und blind war, eins musste man ihr lassen: Trotz des ganzen Stress, den wir in den letzten Tagen hatten, sah sie immer noch frisch und munter aus. Wahrscheinlich war sie einfach nicht so wehleidig wie ich.
Tief durchatmend straffte ich die Schultern. Würde ich das auf mir sitzen lassen? Es konnte ja nicht sein, dass ich mich hier gehen ließ! Ich musste nur überzeugender werden. Dann würde ich Feli überreden können. Und wenn nicht... Nun, dann würde ich wohl alleine fliehen müssen.
Ich nickte meinem gegenüber zuversichtlich zu, zupfte ein paar wirre Strähnen zurecht und zog dann mein neues Unterkleid über. Es fröstelte mich, je länger ich mich in diesem ausgekühlten Raum aufhielt. Also schnappte ich mir auch mein altes Unterhemd und tappte barfuß zur Badtür.
Als ich sie öffnete, blieb ich einen Augenblick verblüfft stehen. Das Bad hatte keine Fenster, weshalb dort rund um die Uhr Kerzen brannten und es einladend beleuchteten. Angesichts der Dunkelheit auf dem Flur mussten die jedoch schon weit heruntergebrannt sein.
Blinzelnd stand ich da, brauchte einen Moment, bis sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten und sah verwirrt in den Korridor. Wie lange hatte ich denn bitte gebadet? Gut, ich war im heißen Wasser eingeschlafen und erst aufgewacht, als es kalt geworden war. Aber war das so lange?
Ich konnte allmählich Konturen erkennen und huschte rüber zu meiner Zimmertür. Der Graf war sicher auch schon wach. Oh Gott! Der sollte mich bloß nicht so sehen! Nicht, dass dem noch der Reißzahn zu tropfen begann. Nein, da trug ich lieber diese Kleider aus dem Schrank. Die waren immer noch besser als ein dünnes Unterkleid.
Mir wurde kalt. Das motivierte mich, mal wieder im Kleiderschrank zu schnüffeln. Als ich die Flügeltüren öffnete, zog ich die Augenbrauen zusammen. Mich beschlich das Gefühl, dass der Inhalt ausgewechselt wurde und die Farbpalette neu bestückt worden war. Statt dezenten Tönen waren nun fast alle Farben intensiv und auffällig. Stirnrunzelnd schob ich die Kleiderhaken auseinander. Die Schnitte waren so angelegt, da für das Dekolté nicht viel Stoff übrig blieb. Nach einigem Blättern zwischen den Kostümen musste ich mir jedoch eingestehen, dass mir nichts anderes als eines dieser Meisterwerke anzuziehen übrig bleiben würde.
Musternd betrachtete ich die Exemplare, zog ein marineblaues hervor – und hängte es wieder zurück, als ich das Korsett bemerkte. Das nächste war ein Terrakotta farbenes Stück Seide, das jedoch viel zu weit ausgeschnitten war, als das sich mein Hals geschützt fühlen konnte. Ein lindgrünes Kleid aus Samt und Spitze schien jedoch so etwas wie einen Kragen zu besitzen. Interessiert zog ich es hervor. Und verdrehte die Augen, als ich einige mottenzerfressene Stellen entdecke. Dieser Kleiderschrank hatte eindeutig etwas gegen mich!
Um nicht doch noch im Unterhemd herum laufen zu müssen zog ich ein dunkelrotes Kleid hervor, dessen Ausschnitt nicht allzu weit und das recht einfach zuzuschnüren war. Nicht meine erste Wahl, aber besser als nichts. Die mehreren Lagen Rock hingen in schweren, großen Falten zum Boden. Ich fühlte mich etwas verloren in all dem Stoff, der an der Taille nicht ganz hundertprozentig passte, sondern etwas zu weit war. Aber ich wollte mich für den Grafen auch nicht zu hübsch machen.
Als ich die passenden Schuhe auf den Füßen hatte stolzierte ich auf halbhohen Absätzen zur Verbindungstür. Ob Feli da war? Würde sie mir überhaupt aufmachen, so wie ich vorhin reagiert hatte? Ich nahm meinen Mut zusammen und klopfte an. Keine Reaktion.
„Feli, bist du da?“
Immer noch nichts. Ich rieb mir den Nacken, ehe ich meine Hand auf den Türgriff legte und ihn zaghaft nach unten drückte. Die Tür öffnete sich ganz leicht. Von drüben kam kein Protest. Als ich durch den Türspalt lugte, bemerkte ich auch, warum. Feli war nicht da. Super!
Tief durchatmend zog ich die Tür wieder zu. Klasse! Feli war nicht da. Einfach so weg. Und ich alleine. Und jetzt? Ich wusste ja nicht einmal, wo sie sein könnte. Wobei ich mir auch sicher war, dass ich hier nicht alleine bleiben wollte. Das wäre dann doch etwas unangenehm. Wo doch der Graf einfach so hereinspazieren und mir das Licht ausknipsen konnte.
Ich schluckte und faste spontan den Entschluss, Feli zu suchen. Sie musste ja irgendwo hier sein. Vom Schloss weg würde sie sicher nicht gehen. Nicht nach dem Gespräch vorhin. Trotzdem hätte sie mir bescheid sagen können. Lässt mich da im Bad versauern, während es dunkel wird.
Ich schritt so gut als auf Absätzen möglich zu meiner Zimmertür und trat auf den Korridor. Wie zuvor war er dunkel. Nur mit dem Unterschied, dass ich jetzt etwas erkennen konnte. Kurz überlegte ich, wohin ich gehen sollte. Dann setzte ich mich einfach nach rechts in Bewegung. Es musste richtig sein. Etwas anderes hätte ich nicht akzeptiert.
Doch je weiter ich ging desto unsicherer wurde ich. An mir zogen fortwährend Türen vorbei. Teilweise hingen ausgeblichene Gemälde an den Wänden. In einigen Nischen standen wieder die dunkel umrissenen Ritterrüstungen. Und der Gang vor mir wurde immer dunkler. Als ich kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte blieb ich stehen. „Scheiße.“
Gerade als ich umdrehen wollte, ging ein kalter Luftzug durch den Gang. Sofort versteifte ich mich. Das Gefühl, das mich beschlich, war das gleiche wie am ersten Abend auf dem Schloss... als der Graf zu uns hinzu gekommen war. Verdammt!
Ich sah mich mit großen Augen um, doch noch immer stand ich allein im Dunkeln. Bis irgendwo auf dem Gang kleine Lichter zu flackern begannen. Ich kniff die Augen zusammen, um die Halluzination zu vertreiben. Doch die Lichter blieben. Und sie wurden immer mehr.
Je mehr entzündet wurden, desto heller wurde der Korridor. Ich erkannte sogar wieder die Ritterrüstungen. Jedoch erkannte ich auch diese Person, die sie anzündete. Denn der hell gekleidete, sich federleicht bewegende junge Mann konnte kein geringerer als Herbert sein. Die Anspannung fiel ein wenig von mir ab. Nur die Angst nicht.
„Guten Abend, mein Fräulein,“ begrüßte Herbert mich, als er endlich bei mir angekommen war. „Was machst du denn hier?“
Ich versuchte das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen. „Ich suche meine Freundin.“ Hatte ich Feli gerade wirklich 'Freundin' genannt? Ich musste sagen, das klang zwar irgendwie seltsam... aber keinesfalls falsch.
„Du meinst Felicitas? Die ist unten im Speisesaal. Koukol bereitet gerade eine Mahlzeit für euch vor.“ Herbert lächelte mir zu. „Du brauchst keine Angst haben, ich bin nicht halb so sehr auf junge Frauen aus, wie mein Vater. Komm, ich bringe dich zu deiner Freundin.“
Ich nickte nur und folgte dem hochgewachsenen Grafensohn. Er schien mir kleiner als sein Vater und überragte mich doch um einen halben Kopf. Was für Hünen, bedachte man die Zeit, in der sie geboren worden waren.
Herbert führte mich den Korridor, den ich entlang gegangen war, ein Stück weit zurück, bis er in einen kleineren Gang einbog, den ich völlig übersehen hatte. Von dem aus führte eine Wendeltreppe ein Stockwerk tiefer, wo wir dem Hauptgang weiter folgten und schließlich vor einer großen Flügeltür stehen blieben.
Herbert öffnete die rechte Seite der Tür und bat mich mit einer einladenden Geste herein. „Bitte, Laura. Nimm Platz und lass dich von unserem Diener verwöhnen.“
Ich lächelte missmutig. „Danke,“ gab ich zurück und trat dann ein. Herbert schien mir sympathisch. Und doch war er ein Vampir, in dessen Nähe mir nicht recht behagen mochte. Als ich den Raum betreten hatte, schloss er die Tür hinter mir wieder. Nun war ich mit Feli alleine. Sie hatte bereits an der Mitte einer langen Tafel Platz genommen, mit dem Rücken zu mir.
Ich schluckte den Kloß im Hals herunter. „Hey.“
„Hey,“ kam die gemurmelte Antwort.
„Du, das von vorhin,“ setzte ich an. „Das tut mir leid. Ich hätte dich nicht so anpflaumen sollen. Das war doof von mir.“ Feli schwieg. Ich senkte den Blick, räusperte mich und knetete meine Finger. „Ich verstehe, wenn du noch sauer auf mich bist.“
Auf dem Stuhl bewegte sich etwas. „Bin ich nicht,“ murmelte die Blonde. Ich sah wieder auf. Feli war aufgestanden und sah mir entgegen. „Ich muss mich auch entschuldigen. Ich hab da wohl bisschen überreagiert.“
„Quatsch,“ lehnte ich ab. „Du hast ja Recht, wir sollten das Beste hier draus machen.“ Ich überbrückte die Distanz zu ihr. „Frieden?“
„Frieden,“ bestätigte Feli. Ehe ich mich hätte vorbereiten können umarmte sie mich auch schon. „Es ist blöd, wenn man hier keinen zum reden hat,“ meinte sie, mich schließlich wieder loslassend.
„Hast du den Grafen noch gar nicht gesehen?“, fragte ich. Ich hatte gedacht, sie wäre wegen ihm aus dem Zimmer gegangen. Aber wenn er nicht der Grund gewesen war, wer dann?
„Nein. Herbert meinte, er hätte noch etwas Wichtiges zu erledigen.“ Feli zuckte mit den Schultern. „Ich bin dann hierher, weil ich Hunger hatte. Koukol macht uns gerade was.“
„Das ist gut, ich hab auch schon Kohldampf.“ Ich grinste, Feli tat es mir gleich. Zwischen uns waren die Fronten erst einmal wieder friedlich. Es tat gut, auf niemanden sauer sein zu müssen. „Setzen wir uns doch wieder,“ schlug ich schließlich vor, als mir die Füße in den Schuhen zu schmerzen begannen.
„Ja, klar.“ Feli setzte sich wieder auf ihren Stuhl, ich setzte mich ihr gegenüber.
„Du hast ein hübsches Kleid an,“ merkte ich an. Das kräftige Blau betonte ihre hellen Haare wunderbar. „Siehst wirklich zum anbeißen aus.“
Feli trat unter dem Tisch nach mir, doch ihre Beine waren zu kurz. „Du Witzbold. Deins ist aber auch hübsch.“
„Naja, da war ein hübscheres, aber das ist den Motten zum Opfer gefallen,“ erklärte ich. „Das hier fand ich aber auch ok.“
„Steht dir gut,“ meinte Feli lächelnd. „Du solltest öfter Rot tragen.“
Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte ich das hier nicht vor. Nicht, dass ich den Vampiren am Ende noch zu aufreizend erschien...
Zu meinem zweifelhaften Glück löste der Bucklige die Situation, indem er schlurfend mit zwei Tellern in den Händen den Raum betrat. Feli und ich sahen ihn gleichermaßen musternd an. Diese zerfetzten Klamotten! Und die Hände... Er mochte ja ein netter Zeitgenosse sein, dann und wann. Aber auf mich wirkte er einfach nur gruselig und unsympathisch.
Mein Lächeln zu ihm drückte genau dies aus, so halbherzig kam es über meine Lippen, als er die Suppe vor mir platzierte. Er bemerkte es nicht einmal und verschwand gleich wieder. Auch gut.
„Guten Appetit,“ warf ich nebenbei Feli zu. Sie entgegnete den Gruß und nahm den Löffel in die Hand.
Dann aßen wir. Oder taten zumindest so, als ob. Denn die Brühe, die man uns vorgesetzt hatte, konnte nur schwer den Titel 'Nahrung' verdienen. Es war bitter, trübe und die einstigen Kartoffeln völlig verkocht. Das Fleisch hing in sehnigen Fetzen vom Löffel herab. Am Rand des Tellers fielen mir alte, vergilbte Fingerabdrücke auf.
Mit gerümpfter Nase legte ich mein Besteck beiseite und schob das Grauen von mir. „Also ich kann das nicht essen,“ gestand ich. Automatisch langte ich nach dem Glas Wasser vor mir und trank einen großzügigen Schluck.
Feli legte erlöst den Löffel nieder. „Ich auch nicht.“ Sie starrte misstrauisch auf die Suppe, als erwarte sie, dass das Ungenießbare sie anspringen und erwürgen könnte. „Das schmeckt widerlich. Pfui.“ Jetzt schob auch sie den Teller auf eine beträchtliche Distanz zu sich.
Ich musste schmunzeln. „Die Küche des Grafen kann man jedenfalls nicht loben. Da sollte er sich doch ein wenig mehr bemühen, wenn er sein Frischfleisch versorgen will.“
„Echt mal. Sowas kann man doch keinem anbieten,“ stimmte Felicitas mir zu.
Ich war insgeheim froh, dass sie mir nicht widersprach. Warum auch immer. Wahrscheinlich einfach, weil ich den Stress leid war. Wie viel sollte man denn noch aushalten? Nein, ich war definitiv für eine kleine Pause. Und für eine Rückkehr nach Hause.
Schließlich nickte ich, faltete die Hände ineinander und legte sie auf die Tischplatte ab. „Und jetzt?“
Meine Gesprächspartnerin zog den Mund kraus. „Weiß nicht. Der Graf ist ja noch nicht da. Und Herbert hat im Stall zu tun.“
Ich runzelte die Stirn. „Woher weißt du, was Herbert zu tun hat?“
„Naja. Als du mit dem Grafen in der Bibliothek warst... Da hab ich auf dem Flur Herbert getroffen. Und dann hat er mir das Schloss gezeigt.“ Ich nahm an, dass Feli mich so seltsam ansah, weil sie meine Reaktion abwartete. Die leichte Unsicherheit in ihrem Blick war ganz niedlich. Genauso, wie die wirre Strähne, die sich ihr ins Gesicht geschummelt hatte.
„Glaubst du ich wäre deshalb sauer?“, fragte ich, neugierig.
Feli zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“
Ich lächelte versöhnlich. „Da brauchst du keine Angst zu haben, ich nehme dir da sicher nichts übel.“
„Danke.“ Die Erleichterung war ihr anzusehen. Mich stimmte der Umstand ein wenig fröhlicher.
Ich musste nur aufpassen, dass dieser Frohsinn nicht allzu bald wieder verpuffte. Denn durch eine der Seitentüren kam wieder der Bucklige angehumpelt, vor sich hin grummelnd und mit den Armen nach Gleichgewicht fuchtelnd. Er nuschelte irgendetwas, wobei er uns näher kam.
„Feli, wollen wir erst einmal zurück aufs Zimmer?“ Mein Blick lag bittend auf ihr, während ich mit dem Kopf so unauffällig wie möglich auf den Diener deutete.
Zum Glück verstand sie. „Natürlich. Lass uns gehen, mir wird langsam kalt.“
Ich nickte. „Gut.“ Der Speisesaal war zwar wärmer als unsere Zimmer, aber das störte mich jetzt nicht. Weg vom Buckligen. Mehr wollte ich ja gerade gar nicht.
Gerade als ich meinen Stuhl zurück schob erreichte Koukol den Tisch. Sein unförmiger, in Lumpen gehüllter Arm langte nach meinem Teller. Der plumpe Daumen tauchte in die Suppe ein. Schlagartig war ich froh, nicht mehr davon gegessen zu haben. Als der Bucklige zu mir sah, wich ich dem Blick aus und ging angespannt um den Tisch herum. Es wäre unhöflich allzu offensichtlich zu fliehen, auch wenn mir ganz und gar der Sinn danach stand.
Drüben angekommen packte ich Feli am Arm. Jetzt wurden meine Schritte doch schneller. Felis allerdings auch. Erst als wir beide vor dem Speisesaal standen und die geschlossene Tür in unserem Rücken spürten, konnte ich aufatmen.
„Puh! Ich hätte es keine Sekunde länger ausgehalten,“ schnaufte ich, mir eine Hand auf die Schlüsselbeine legend, wo meine Aorta pulsierte.
Feli strich sich mit den Fingern die Haare nach hinten und klemmte eine Strähne hinter ihr Ohr. „Der macht einem echt Angst. Hast du schon mal seine Zähne gesehen?“
„Schrecklich,“ pflichtete ich ihr bei. „Ich will nicht wissen, wie er die so demolieren konnte.“
„Ich will auch nicht wissen, was für eine Kraft der entwickeln kann, wenn er wütend wird,“ meinte Feli und sah mich mit großen Augen an. „Diese Menschen können ja unberechenbar werden.“
Ich nickte verstehend. Wütend wollte ich den echt nicht erleben. Tief durchatmend stieß ich mich von der Tür ab. „Lass und erstmal aufs Zimmer gehen, dann sehen wir weiter.“
Feli lächelte zustimmend. Dann gingen wir beide nebeneinander den breiten Flur entlang, hin zu der Treppe, die uns in unser Stockwerk führen würde.
Doch dort angekommen wurden wir an diesem Abend zum zweiten Mal überrascht. Während wir am unteren Ende der Stufen standen und mit verträumten oder misstrauischen Blick nach oben sahen, versuchte dort ein dunkel gekleideter und in einen bläulichen Umhang gehüllter Graf von Krolock, unbeschadet die Treppe herunter zu kommen.
Ich musste mir nach einem Augenblick stummen Beobachtens das Kichern verkneifen. Der ach so furchteinflößende Graf stand dort, fuchtelte mit seinem in eine enge Hose gehüllten Bein, um den Hacken seines Schuhes vom Umhang zu befreien, und musste sich tatsächlich am Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die angespannten Lippenbewegungen ließen vermuten, dass er gerade leise Flüche ausstieß.
Ich musste wohl doch gekichert haben, denn unerwartet wurden vier Augen auf mich gerichtet. Feli boxte mich in die Seite. Im Blick des Grafen lag eine düstere, vernichtende Note. Ungewollt fühlte ich mich einen Kopf kleiner.
„Guten Abend, Herr Graf,“ versuchte Feli die Situation zu retten und knickste in ihrem blauen Gewand. Es wurde schwer für mich, nicht mit den Augen zu rollen.
Doch der Graf sprang darauf an, wechselte von einem Moment auf den anderen seine gesamte Ausstrahlung und neigte galant den Kopf. Wahrscheinlich zur Begrüßung. „Guten Abend, Felicitas, Laura. Ich hoffe die Mahlzeit hat euch gemundet?“
„Das hat sie, vielen Dank,“ kam Feli meiner Ambition, die Wahrheit zu sagen, zuvor.
Der Graf hob die freie Hand zu einer Brosche an seinen Schultern und löste den Umhang, ehe er ihn sich über den Arm legte. Anscheinend hatte er nicht den Drang, sich weiter vor uns bloß zu stellen.
Der böse Blick, den ich daraufhin vom Schlossherrn erntete, ließ Wut in mir aufsteigen. Wie bitte? Was hatte ich denn jetzt wieder getan? Wollte er mich vielleicht über meine Missetaten aufklären? Doch das tat er nicht. Er stolzierte weiter die Stufen herab, bis er vor Feli und mir stehen blieb. Der vernichtende Blick war vergessen. Stattdessen ignorierte er mich nun. Auch gut.
„Felicitas, wir hatten noch nicht das Vergnügen uns näher kennen zu lernen. Ich muss gestehen, dass ich neugierig bin. Würde es dir etwas ausmachen, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten?“ Mir klappte beinahe die Kinnlade herunter. Was war das denn für eine Masche von ihm? Erst der drohende Blick, dann pure Ignoranz und jetzt das? In meiner Magengegend formte sich ein seltsamer Kloß, der mir unangenehm aufs Gemüt drückte. Gut, wenn er Krieg haben wollten, sollte er Krieg bekommen. Nur weil ich mich nicht in seine Arme warf, würde ich mich doch von ihm nicht klein machen lassen. Arroganter Arsch.
Für Feli war ich jetzt natürlich auch Luft. „Nein, es macht mir nichts aus,“ hauchte sie ihm entgegen. Der Glanz in ihren Augen verriet, auf welcher Wolke sie gerade schwebte. Und während der Graf ihr seinen Unterarm bot, in den sich die Blonde willig einhakte, ballte ich meine Hände zu Fäusten.
Mit zusammengepressten Lippen stapfte ich zu meinem Zimmer hoch, ging allerdings an diesem vorbei und folgte meiner Intuition, die mich glücklicherweise dorthin brachte, wo ich hinwollte. Zur Bibliothek. Sollte dieser Graf doch tun was er wollte, von meiner Seite au war jetzt Schluss damit! Ich ließ mich doch nicht hin und her schubsen!
Energisch öffnete ich die Tür zu der Buchsammlung, trat in den weitläufigen Raum ein und blieb kurz stehen. Ich brauchte Landkarten. Wenn ich fliehen wollte, dann war eine gewisse Ortskunde vorteilhaft. Das nächste Dorf würde ich lokalisieren müssen. Und den schnellsten Weg dorthin.
Ich ging zu den Regalen und musterte jeweils die ersten einsortierten Bände. Aristoteles, Platon, Gryphius... Dann endlich fand ich einen Band, der gesammelte Landkarten versprach. Ich bog in den Gang ein, während mein Blick über die Buchrücken streifte. Die meisten waren in Rumänisch beschriftet. Zu meinem Leidwesen konnte ich mit der Sprache rein gar nichts anfangen. Also half mir nur das Experiment. Ich zog einen der Bände hervor, schlug ihn auf und wedelte mir den Staub von der Nase. Die Landkarte jedoch zeigte nur das Schwarze Meer, wenn ich die Umrisse richtig deutete. Also klappte ich das Buch wieder zu und stellte es zurück.
Auf diese Weise hatte ich nach zehn Minuten vier Bände mit vielversprechendem Material gefunden. Eine weitere viertel Stunde später waren noch ein paar englische Sammlungen von Mythen und Sagen der Karpaten hinzu gekommen. Es konnte nicht schaden, sich über Vampire zu informieren, wenn man vor ihnen fliehen wollte.
Und wenn ich Glück hatte, würde ich mit den richtigen Argumenten auch Feli überzeugen können. Immerhin dachte sie wohl noch immer, das hier wäre ein Traum oder sonst etwas. Sie befand sich ja auch auf dieser lästigen rosa Wolke. Was für verheerende Folgen die Liebe doch haben konnte! Ob da überhaupt noch Argumente zogen? Ich wusste es nicht und wagte nicht, darüber nachzudenken, was wäre, wenn ich sie nicht überreden konnte. Feli würde sterben. Doch ob ich das verantworten konnte, während ich selbst ungeschoren davon kam, war fraglich.
Kopfschüttelnd trieb ich die Zweifel aus meinem Kopf und schlug das erste Buch auf. Einige Landkarten der Karpaten. Eine Version von vielen, diese jedoch noch relativ zeitnah. Doch schon beim ersten Blick wurde mir klar: Wenn ich darauf das Schloss finden wollte, würde ich mindestens siebzig sein, ehe ich diese Gemäuer verließe.  

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