Kapitel 7 - Leichen im Keller

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Das erste Mal, seit ich auf diesem verkorksten Schloss gelandet war, wurde ich von der Helligkeit des Tages geweckt. Durch das nicht gänzlich verhüllte Fenster lugte die Sonne. Warme Strahlen kitzelten meine Haut und blendeten meine Augen. Das Licht ließ mich müde blinzeln.
Ich hätte die Sonne ohrfeigen können.
An keinem anderen Tag hätte ich mir so sehr gewünscht, weiterschlafen zu können. Doch sobald meine Augen auf waren, überkam mich ein Tatendrang der speziellen Art. Nämlich eines derer, die sich ganz schlecht mit Schlafmangel vertragen. Und die es immer wieder fertig brachten, meine Stimmung auf den Gefrierpunkt sinken zu lassen.
Mürrisch befreite ich meine Beine von der Bettdecke und setzte mich auf. Der Tag war viel zu hell für meinen Geschmack. Ob das an dieser Epoche lag? Oder hatte ich mich einfach schon zu sehr an die Nacht gewöhnt? Ich schüttelte den Kopf und wuschelte mir durch die Haare. Sie fühlten sich schwer und matt an. Eindeutig ein Zeichen dafür, dass sie sich Seife herbeisehnten.
Als meine nackten Füße den Teppichläufer erreichten schauderte es mich für einen Moment. Ich war mir nicht sicher, wie viele Leute hier schon drüber gelatscht waren und wie viele Milliarden Keime da drin stecken mochten. Wahrscheinlich würde ich Ekelpickel von dem Gedanken bekommen. Doch andererseits war das für die Zeit sicher schon hygienisch. Also fasste ich mir ein Herz und stand auf, tappte auf leisen Sohlen zur Verbindungstür und klopfte an.
Ich hörte kein „Herein“ oder ähnliches. Auch kein gegenteiliges Wort. Also fasste ich das als Eintrittserlaubnis auf und betätigte den hübsch geschwungenen Hebel.
Die Tür ging auf. Ich spähte in Felis Zimmer. Und bemerkte, warum mir zuvor niemand geantwortet hatte. Bis auf Staubmilben und anderen Einzellern befand sich kein Lebewesen im Raum. Den Mund kraus gezogen schloss ich die Tür wieder. Und stand erneut allein in meinem Gemach.
Wo Feli wohl wieder war? Vielleicht hatte sie ja beschlossen, dass das Schloss doch zu düster ist und war davon gelaufen. Oder sie war einem der anderen Vampire in die Fänge gerannt. Immerhin gab es hier mehr als nur den Grafen, das wussten wir seit dem Musical ja bereits.
Ich seufzte und legte den Kopf schief. Feli hätte mich sicher nicht vergessen, noch war ihr etwas passiert. So redete ich es mir zumindest ein.
Um die Zeit zu überbrücken, bis Feli zurückkommen würde, ging ich zum Fenster. Die ergrauten Vorhänge fühlten sich schwer und staubig an, als ich sie zur Seite schob. In dem dadurch hereinfallenden Licht tanzten unzählige Staubflocken – größere wie auch kleinere. Ich schmunzelte. Der Graf sollte sich mal eine Putzfrau zulegen, dann könnte er Überraschungsgäste wohl eher von seinen Qualitäten überzeugen.
Mein Blick wanderte vom Staub-Schauspiel nach draußen, in die malerische Umgebung. Weiße Berge, strahlend blauer Himmel, schneebedeckte Tannenspitzen. Die Sonne hoch oben am Himmel, wo sie wahrscheinlich gerade ihren Zenit überschritten hatte.
Die Qualitäten des Grafen... Irgendwie hörte sich das seltsam an. So, als könnte man ihm tatsächlich etwas abgewinnen. Dabei war es doch alles offensichtlich! Zwei junge Frauen, völlig ahnungslos und fremd. Ein wenig besuchtes Schloss. Und ein überaus mysteriöser Graf. Ja, geheimnisvolle Kerle hatten definitiv etwa an sich, das neugierig machte. Trotzdem blieb dieser Graf ein Vampir. Ein unnatürliches Monster, das lebenden Menschen Blut aussaugte. Im Musical hat mich das nicht gestört. Da hatte ich das alles für Fiktion gehalten. Aber jetzt?
Ich musste an seinen Blick gestern Abend – oder besser: heute Morgen – denken. Dieses gedankenverlorene Starren. Diese undefinierbare Leere in seinen Augen. Und doch konnte man ihn nicht durchschauen. Er ist so geheimnisvoll, so unberechenbar. Im einen Moment scheint er ruhig, entspannt, beinahe völlig gelassen. Im nächsten glaubt man sich in der Falle des Jägers, darauf wartend, dass sie endlich zuschnappt.
Mich schauderte es. Im Grunde saßen Feli und ich gerade in dieser Falle. Und das schlimme daran war: Wir wussten es. Wir kannten die Falle. Wir waren uns dem Bann des Grafen bewusst und wir wussten, was mit jungen Frauen auf diesem Schloss geschah. Das elendige an unserer Situation war es doch, dass wir uns nicht dagegen wehren konnten. Wir konnten nur abwarten. Wann würde dem Grafen das Spiel über sein? Wann würde die Falle zuschnappen?
Wann würden wir uns die Ewigkeit mit diesen Marionetten auf dem Friedhof teilen?
Augenblicklich überlief mich eine Gänsehaut. Ich wollte gar nicht daran denken, hier sterben zu müssen, wenn nicht unbedingt ein Wunder geschah. Ich wollte nach Hause. Nur nach Hause. Wie auch immer, wo auch immer, mit wem auch immer. Nur nach Hause. Zu meinem großen Bruder, zu meinen Eltern. In mein warmes Bett, wo mir kein Graf der Welt etwas anhaben konnte.
Nur hatte ich ein Problem. Ein blondes, gut gebräuntes und grafenvernarrtes Problem.
Sicher kannte ich Feli noch nicht sehr lange. Seit dem Musical. Und das war wie lange her? Zwei, drei Tage? Aber ich war kein Mensch, der jemand anderes im Stich lassen konnte. Erst recht nicht, wenn ich wusste, dass es um Leben und Tod ging. Ich wollte weg – aber ich würde nicht ohne Feli gehen können. Und die zu überzeugen würde sehr viel Kraft kosten...
Wie auf Abruf wurde in diesem Moment polternd die Verbindungstür aufgerissen. Ich fuhr herum. Auf mich zu kam eine breit grinsende und wild gestikulierende Feli. Für einen Augenblick schien der Abgrund hinter dem Fenster verlockend. Er wäre nur einen Handgriff entfernt. Doch ich war nicht feige. Statt zu springen nahm ich die Herausforderung der Überzeugung an.
„Morgen, Laura!“, begrüßte mich die Blonde voller Übereifer, worauf ich eine nicht halb so euphorische Antwort murmle. „Ich muss dir unbedingt was erzählen! Das glaubst du gar nicht! Ich war ja vorhin draußen und hab bisschen durch den Flur geschnökert. Und rate mal, was ich da gefunden habe!“
Ich zog die Stirn kraus und dachte einen Moment lang nach, was so weltbewegend sein konnte, dass sie so den Kopf darüber verlor. Vor allem, was davon hier auf dem Schloss zu finden war. Letztlich zuckte ich mit den Schultern. „Weiß nicht.“
„Ich hab das Bad gefunden!“ Sie schlug schwärmerisch die Hände aneinander und seufzte. „Es ist wundervoll! Total prächtig und prunkvoll. Die Wände sind mit Spiegeln versehen und überall glänzt Gold. Und die Fliesen... Hey! Hörst du mir eigentlich zu?“ Die Hände in die Hüften gestemmt stand sie vor mir.
Ich sah von dem Panorama meines Fensters auf. „Ähm... ja. Du hast das Bad gefunden.“
„Ja, freust du dich denn nicht?“ Ihre Mimik sagte so etwas wie Enttäuschung aus.
„Naja,“ versuchte ich mich zu retten, „ich hatte es für normal gehalten, dass es in Schlössern Bäder gibt.“
Feli ließ die Schultern hängen. „Och, Laura!“
„Was? Ich dachte du wüsstest, dass wir gegenüber ein Bad haben.“ Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Wo hatte sie denn bitte die letzten Tage über ihre Notdurft verrichtet?
„Nein, wusste ich nicht. Das hättest du aber auch mal sagen können.“ Feli verschränkte die Arme ineinander. Ich erwartete, dass jetzt noch ein Schmollmund oder alternativ ein aufstampfen mit dem Fuß käme. Doch das kam nicht. Stattdessen hockte sie sich auf die Bettkante und schwieg.
Und ich schwieg mit.
Bis mir die Stille zu viel wurde, die Gedanken an die verstörende Art des Grafen zurückkehrten und ich mich an meine Fluchtidee erinnerte. Mein Blick wanderte wieder weg von der Schneelandschaft draußen und hin zu Feli. Sie knetete wieder eine Stoffbahn ihres Kleides, wie sie es meist tat, wenn sie sich nicht wohl fühlte. Heute trug sie etwas Lachsfarbenes. Es unterstrich mit dem engen Schnitt ihre schmale Taille.
Mein Räuspern durchbrach das Schweigen wie ein Donnerschlag. „Feli?“, fragte ich, hinab zum Boden blickend. „Lass uns doch einfach verschwinden von hier.“ Meine Augen fingen an zu brennen. Ich blinzelte. Selten weinte ich vor Fremden. Das würde sich auch jetzt nicht ändern.
„Verschwinden?“ Felis Stimme ließ mich aufsehen, sie klang fast herablassend.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ja. Ich will weg hier. Nach Hause. Oder irgendwo hin, wo es nicht so gefährlich ist.“
„Ach so?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich will auch nach Hause. Aber wie? Ich glaube nicht dass wir mir-nichts-dir-nichts zurück kommen.“
„Das glaube ich auch nicht. Aber wir finden erst recht nicht zurück, wenn wir hier weiter rum hocken.“
„Heißt also, du willst kopfüber fliehen. Schön, und wohin?“
Ich senkte den Blick. „Ich weiß nicht. Einfach weg. In Dorf vielleicht.“
Feli machte einen verachtenden Laut. „Ins Dorf? Gute Idee! Da sind wir ja auch gerade erst verscheucht worden.“
Meine Hände waren feucht, als ich mir über mein Handgelenk rieb. Dort, wo sich sonst mein Armband befand. „Wenn wir am Tag ins Dorf gehen, werden die schon sehen, dass wir keine von... denen sind.“
Feli stand von der Bettkante auf und ging zu meinem Spiegel. Ich sah ihr hinterher. „Das sehe ich auch so,“ meinte sie. „Außerdem: Wenn wir jetzt los laufen, würden wir das Dorf nie vor der Dämmerung erreichen. Wir wissen ja nicht einmal, wohin wir laufen sollen.“
„Wir könnten die Flucht planen. In der Bibliothek stehen haufenweise Landkarten,“ versuchte ich mich zu verteidigen.
„In der Bibliothek...“ Felis Miene verfinsterte sich, soweit ich das im Spiegel erkennen konnte. „Damit du wieder ein Pläuschchen mit dem Grafen halten kannst?“
Mir klappte die Kinnlade runter. „Wie bitte?“
„Naja, mit dir redet er ja laufend. Und überhaupt ist er viel mehr an dir interessiert. Ständig guckt er so komisch zu dir. Ich bin ihm doch viel zu... anders.“
Ich musste meine Gedanken sortieren, ehe ich etwas Dummes sagen konnte. War das gerade wirklich Feli, die mit mir redete? Ich hätte nie gedacht, dass sie so eifersüchtig sein konnte. Und so blind! Sie war dem Grafen wirklich schlimmer verfallen als gedacht! „Er guckt mich komisch an? Ja, klar! Der will mein Blut, und nichts anderes! Der ist nur deshalb interessiert an mir. Weil ich nicht halb so freiwillig bei ihm bleibe wie du.“
Feli sog scharf die Luft ein. „Ich wäre auch lieber in meiner Zeit als in diesem blöden Transsilvanien. Aber ich bin hier und ich weiß, dass ich so schnell nicht wieder weg kann! Warum soll ich da nicht das Beste draus machen?“
„Du merkst es nicht, oder?“ Feli drehte sich empört zu mir um. In ihrem Gesicht war Zornesröte zu sehen. „Der Graf will uns umbringen! Der will unser Blut, das ist ein Massenmörder! Wer weiß, wie viele Leichen der im Keller, oder besser auf dem Friedhof liegen hat! Ich will da nicht landen! Ich will zurück!“
Feli kniff die Lippen aufeinander. Ich wusste, dass sie jetzt nach einem Gegenargument suchte, aber keines finden konnte. Es gab ja auch keins. Über ihrem Kopf hätte man jetzt Gewitterwolken vermuten können.
„Denk du was du willst von 'deinem Grafen',“ brachte ich schließlich gepresst hervor. „Ich weiß, dass er uns töten will. Und ich will dich nur davor bewahren.“ Mit den Worten schnappte ich mir ein neues Unterkleid aus einem der kleineren Schränke und ging zur Tür. „Ich brauch jetzt ein heißes Bad. Bis später.“ Dann war ich draußen und hörte hinter mir die Tür in ihren Rahmen fallen.

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