Kapitel 10 - Recherche und... Zahlen?

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Ein markerschütternder Schrei hallte durch die düsteren Mauern des Schlosses. Die donnernde Stimme des Grafen war unverkennbar. Selbst in der Bibliothek wurde die Atmosphäre schlagartig kühler.
Ich sah von dem Atlas in meinen Händen auf. Ich wollte nicht wissen, welches arme Wesen jetzt wieder der Wut des Schlossherrn ausgesetzt war. Gut, dass ich weit genug weg war. Nur... Wie lange wäre das noch der Fall? Wann würde der Graf in meiner Gegenwart ausrasten? Konnte ein Geschöpf seinen Zorn überleben? Oder war es vielmehr der Vampir, der einen vernichten würde?
Mir lief einer der Schauer über den Rücken, von denen ich meinte, mich längst an sie gewöhnt haben zu müssen. So oft war mir unwohl hier. So oft wünschte ich mich weit, weit weg von hier. Doch eines wurde mir klar: Wenn ich nicht sehr bald wegkäme, dann gab es keinen Ausweg mehr. Denn dass der Graf von meinen Plänen erfahren würde, das bezweifelte ich nicht. Ich war nicht sehr gespannt auf seine Reaktion.
Tief durchatmend sah ich zurück auf den Atlas, schüttelte den Kopf und schlug das Buch seufzend zu. Auch hier war weder das Schloss, noch eines der umliegenden Dörfer verzeichnet. Ich fragte mich, ob überhaupt irgendeine relevante Landkarte von diesem Gebiet existierte.
Nur wie sollte ich ohne Plan fliehen? Ich konnte schlecht kopflos in den Wald rennen. Im günstigsten Fall würden wir irgendein Dorf finden. Mit etwas Pech würden wir einfach erfrieren. Mit großem Pech würde der Graf uns einfangen, sobald es dunkel wurde. Ich schluckte, um meinen trockenen Hals zu befeuchten. Ob wir blieben oder flohen war somit also einerlei. Nur beinhaltete die Flucht zumindest eine verschwindend kleine Chance der Rettung.
Nur Rettung für wen? Feli war dem Grafen Hals über Kopf verfallen. Sie himmelte ihn ja schon an, wenn er nur abwesend vor sich hin starrte. Mit ihr gab es ja kaum ein anderes Gesprächsthema als den Schlossherrn. In ihrem Kopf existierte sie wahrscheinlich nur noch mit ihm auf diesem unheimlichen Schloss. So wie es momentan stand, brauchte er sicherlich nur lieb bitten und sie würde ihren Hals ganz freiwillig entblößen.
Unwillkürlich biss ich mir auf die Lippe. Hatte ich das eben wirklich gedacht? Verdammt, ich wollte so nicht über Feli denken. Sie war ja nur ihrer hormonellen Achterbahn eines Teenagers erlegen. Jetzt plagte mich das schlechte Gewissen.
Ich wusste ja, dass es schwer werden würde, Feli von der Flucht zu überzeugen. Es würde wohl die schwerste Überzeugung meines Lebens. Aber ohne sie gehen? Mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen. Ich konnte sie nicht alleine lassen. So abgebrüht war ich einfach nicht. Einer für alle, alle für einen. Wie könnte ich schon eine Freundin im Stich lassen? Dazu war Feli innerhalb der letzten Tage ja irgendwie geworden...
Ich zog einen Schmollmund und legte das Buch zurück zu den anderen auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa. Die Kerzen im Halter flackerten bei dem kleinen Windhauch. Im tanzenden Schein der kleinen Flammen griff ich nach einem anderen Buch. 'Vampirmythen' lautete der Titel. Eines der wenigen Deutschsprachigen Bücher hier. Ich war froh, es zwischen die Finger bekommen zu haben, auch wenn die alten Lettern nicht leicht zu entziffern waren.
Wahllos blätterte ich durch die Kapitel, in den Überschriften nach interessanten Schlagwörtern suchend. Doch außer dem üblichen Aberglauben um Reliquien, Knoblauch und Holzpflöcke begegnete mir nichts Außergewöhnliches.
Erst als mir ein Kupferstich mit einem langzahnigen, spitzohrigen Wesen begegnete, das linsenzählend in seinem Sarg hockte, wurde ich stutzig. Neugierig blätterte ich einige Seiten zurück und las die Überschrift: 'Die Macht der Zahl'. Augenblicklich musste ich schmunzeln. Das klang doch mal interessant, wenn auch wenig hilfreich. Dennoch legte sich mein Blick auf die folgenden Zeilen, während ich den Inhalt förmlich aufsog.
Ein Vampir sei demzufolge ein Wesen, das der Macht der Zahlen nicht widerstehen könne, da die gemeine Algebra von Gott durchdrungen sei, wie in der Zahl Phi nachweisbar. Die Macht äußere sich dahingehend, dass Untote alle Gegenstände, die sich mit ihnen in einem Raum befinden, zählen müssten. Sie gäben nicht eher Ruhe, bis das eindeutige Ergebnis feststünde. Daher sei es ratsam, einem Verstorbenen ein Glas Linsen mit ins Grab zu streuen. Sollte er desnachts dann erwachen, müsste er zuerst die Linsen zählen, ehe er sich erheben könne. Die dafür benötigte Zeit nehme bestenfalls die ganze Nacht in Anspruch, sodass er keinen Schaden anrichten könne. In der darauffolgenden Nacht müsse er dann die Linsen von neuem zählen.
Ich stoppte am Ende des Absatzes und hielt für einen Moment inne. Linsen zählende Vampire. War das der Grund, warum die Friedhofsvampire alle brav in ihren Gräbern blieben? Meine Finger schlugen die Seiten bis zum Kupferstich um. Ein Schmunzeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Es war eine köstliche Vorstellung, die mehr oder minder adligen Schlossbewohner so in den Särgen sitzen zu sehen, eine Handvoll Linsen in der Hand und unzählige um sich herum.
Als ich weiter blätterte, fand ich zwischen den Seiten eine tote Spinne vor. Bei der darauffolgenden Assoziationskette blieb mir fast die Luft vor Lachen weg. Spinne. Spinnennetze. Viele Spinnennetze. Graf.
Prustend hielt ich mir die Faust auf den Mund, um nicht gänzlich in schallendes Gelächter auszubrechen. Manchmal war meine bildhafte Fantasie lästig. In diesem Moment feierte ich sie. Ein Spinnennetze zählender Graf, der in aristokratischer Miene von Regal zu Regal lief und mit dem Zeigefinger auf die Netze zeigte, die er zählte. Die Assoziation setzte sich zu Graf Zahl aus der Sesamstraße fort:
Ein Spinnennetz.
Zwei Spinnennetze.
Drei Spinnennetze.
Drei Spinnennetze! Muahahahaha!
Ich gluckste so heftig vor mich hin, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Mir tat der Bauch vom Lachen weh. Herrlich! Das Bild von diesem Grafen von Krolock, der mit erhobenem Zeigefinger zählend durchs Schloss stolzierte würde ich nie mehr aus dem Kopf bekommen!
Meine Liebe, ich tue vieles in der zahlreichen Freizeit, die mir zur Verfügung steht. Spinnennetze zähle ich jedoch nicht.
Ein hoher Schrei, meine Arme flogen in die Luft, das Rascheln von Papier und ein dumpf knitterndes Geräusch, als das Buch mit einer Staubwolke mehrere Meter entfernt landete. Meine rechte Hand lag auf meinen Schlüsselbeinen. Mein Herz schlug noch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich den unschön am Boden liegenden Band an. Das arme Buch. Es hatte eine solche Behandlung nicht verdient.
Da kann ich dir nur zustimmen. Du könntest sorgsamer mit meinem Eigentum umgehen.
Verdammt! Was war das hier für ein abgefuckter Scheiß?! Konnte der jetzt etwa auch noch in meinen Kopf eindringen, darin rumspuken und mich mit seiner Anwesenheit belästigen? War man denn nirgends mehr sicher? „Wäret Ihr vielleicht so freundlich, Euch im Zuge der Privatsphäre aus meinem Kopf heraus zu halten?“, giftete ich leise vor mich hin.
Laura, du enttäuschst mich. Ich hatte dich viel schüchterner in Erinnerung.
Pah, nur weil ich mich von einem Serienkiller eingeschüchtert gefühlt hatte? „Ich bedaure, Euch enttäuschen zu müssen.“ Jetzt konnte ich das sagen, jetzt war er nicht hier. Auch wenn das vielleicht an Selbstüberschätzung und Übermut grenzte. Aber ich durfte ja verdammt nochmal sauer sein! „Nur bin ich gerade nicht in der Lage meine Entrüstung im Rahmen zu halten,“ zischte ich in die Leere der Bibliothek, während ich energisch aufstand und das Buch vom Boden auflas. Das arme Ding. In meinem Regal zuhause stand es höchstwahrscheinlich sicherer als hier.
Ich rate dir, deine Pläne zu überdenken. Ich habe euch gerade erst als meine Gäste aufgenommen. Jetzt zu fliehen wäre eine Beleidigung an meine Gastfreundschaft, so etwas stößt mir meist übel auf.
Ich rang innerlich mit Wut und Angst. Da ich jedoch gerade noch damit beschäftigt war den geschundenen Buchseiten die Eselsohren zu glätten und der Graf offensichtlich die Verantwortung für den Fauxpas trug, überwog noch die Wut. Das erleichterte es mir, den drohenden Unterton in seiner Stimme zu ignorieren.
Ich frage mich, wohin du wohl fliehen würdest? Zurück in den Wald, in der Hoffnung, dahin zurück zu kehren, wo du hergekommen bist? Denkst du, eine Reise durch die Zeit mache alles wieder besser?
Ich hielt einen Augenblick inne und starrte auf die Buchstaben und Zeilen vor mir, doch sie verschwammen. Ich wollte mir immer noch einreden, dass alles ein böser Traum war. Dass ich irgendwann aufwachen würde, zuhause, und alles wäre vorbei. Es gäbe keinen Grafen, es gäbe keine Feli und es gäbe keine verfluchte Zeitreise…
Deine Sehnsucht ist nachvollziehbar.
Ach, jetzt wurde er zum Verständnisvollen? Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Vielleicht konnte ich ihn ja noch dazu bringen, Priester zu werden, dann wären wir wohl alle sicher.
Dafür ist es wahrscheinlich zu spät. Ich bezweifle, dass es einen expliziten Weg für dich zurück gibt. Ebenso, wie ich bezweifle, dass du ernsthaft daran glaubst, fliehen zu können.
Ich sträubte mich dagegen, meinen Irrsinn ein zu sehen. Da war ein großer Teil, der es einfach aus Stolz nicht einsehen wollte und ein etwas kleinerer, der tatsächlich noch daran glaubte, heil aus all dem heraus zu kommen. Seltsamerweise wurde gerade letzterer Teil von der Tatsache bestärkt, dass der Graf um meine wahre Herkunft wusste. „Wie habt Ihr es herausgefunden?“, schniefte ich halbherzig. Ich hasste es, so nah am Wasser gebaut zu sein.
Meine Bibliothek ist groß. Ich hüte viele Sagen und Legenden, wie du wissen müsstest. Es sind auch Mythen über gewisse Paradoxen verzeichnet. Im Grunde habe ich nur vermutet, doch du hast meine Überlegungen bestätigt.
Ich stieß einen undefinierbaren Laut aus, den ich selbst keiner Emotion zuordnen konnte. War ich jetzt enttäuscht? War ich erleichtert? War ich froh darüber, kein Geheimnis mehr hüten zu müssen? Oder war ich sogar sauer, weil alles an diesem Schloss aus einem sehr abgedrehten Horrorfilm hätte stammen können?
Im Übrigen würde ich mich freuen, dir und deiner Freundin meine Grafschaft bei einem kleinen Ausritt zu zeigen.
Der plötzlich freundliche Ton in seiner Stimme ließ mir übel werden. Wie konnte er nur so schnell zwischen den Emotionen wechseln? Konnte er Arroganz, Verständnis und Sadismus noch unterscheiden? Wurde er da nicht langsam Schizophren?
Doch die viel gravierendere Frage war: Bei einem Ausritt?!
Ich erinnerte mich an meine letzte Reiterfahrung. Die war vor 10 Jahren, die eine geschätzte Ewigkeit her waren. Damals war ein Zirkus in der Stadt gewesen. Ich als eifriges und abenteuerlustiges Kind war natürlich als erstes an die Loge gestürmt, um eine Runde auf dem Isländer geführt zu werden. Danach war ich nicht mehr so froh. Denn das bockige Ding hatte mich mit einigen Hüpfern sauber abgeworfen.
„Das muss ich mir nochmal durch den Kopf gehen lassen,“ murmelte ich. Mir wurde die Sache einfach zu viel, zumal sich mein Schädel anfühlte, als befände er sich in einem Schraubstock und mir die Augen brannten.
Tu das. Ich erwarte morgen eine zufriedenstellende Entscheidung.
Ich meinte ein triumphierendes Lächeln in den Worten zu hören. Mir entkam ein verächtliches Schnaufen. Sorgsam klappte ich die Mythensammlung zu und legte sie zurück zum Stapel auf dem Tischchen. Vielleicht konnte ich morgen weiter recherchieren. Jetzt brauchte ich jedenfalls Schlaf. Zum Glück fühlte sich mein Kopf jetzt wieder leerer an. Ein gutes Zeichen, dachte ich mir. Wenn etwas fehlte, dann hoffentlich der Graf, denn der gehörte ja nun auch wirklich nicht dorthin.
Mit einer Hand an der Stirn verließ ich schließlich die Bibliothek, stapfte müden Schrittes die Gänge zu meinem Zimmer entlang und schloss die Tür hinter mir, als ich es endlich erreicht hatte. Einen Augenblick lang blieb ich stehen, dann atmete ich erleichtert aus. Ein Feuer knisterte im Kamin und wärmte mein bescheidenes Gemach. Außerdem spendete es Licht. So musste ich nicht in jedem Schatten eine lungernde Gestalt vermuten.
Ich öffnete so schnell es ging die Schnüren an der Rückseite meines Kleides und streifte mir den roten Stoff von den Schultern. Ruhe. Bett. Schlafen. Das war alles, woran ich dachte. Im Unterkleid tappte ich zum Bett, platzierte das Kleid über die Fußleiste und setzte mich auf die weiche Matratze. Dort streifte ich mir die roten Schuhe ab. Kaum dass sie plumpsend zu Boden fielen, kroch ich unter die Bettdecke, kuschelte meinen Kopf in das bauschige Kissen, kreuzte vorsichtshalber die Finger und sank in einen wohlverdienten Schlaf.

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