Felicitas
Noch nie hatte ich eine solche Dunkelheit erlebt. Alles war schwarz, ich sah kein Licht, keine Farbe und keine Schatten. Eigentlich sah ich nicht einmal die Schwärze, denn es gab nichts, was ich sehen konnte. Ich schwebte, fühlte mich frei und losgelöst von allen Sorgen, von allem irdischen. Ich war kein Körper mehr, ich war nur ich. Meine Seele.
Eine ganze Weile trieb ich ziellos im Nichts. Es war ein gutes Gefühl, hoffnungsvoll und geborgen. Dann spürte ich eine seltsame Energie, die mich zu sich hin zog. Ich wollte nach ihrer Quelle suchen, doch noch immer fehlte mir der Körper, der das getan hätte. Die Energie war positiv, das wusste ich. Ich wusste, sie würde mich in eine andere Sphäre bringen, in eine ferne, ferne Realität, weitab der Welt. Ich wollte zu ihr. Alles, was mich in diesem Moment ausmachte strebte der Energie entgegen, wollte sich mit ihr vereinen. Ich fühlte Glück durch mich pulsieren. Glück und Frieden. Ich wollte darin aufgehen und endlich Ruhe finden…
Dann brach plötzlich alles zusammen. Kälte umfasste mich, betäubte mich. Ich wurde von Unruhe und Panik übermannt, kämpfte darum, zurück in das Glück zu kommen… Doch alle Mühen waren umsonst. Das letzte, was ich spürte, war alles durchdringender Schmerz.
…
Benommen blinzelte ich gegen die Helligkeit. Sie blendete mich. Ich wollte die Hand heben um meine Augen abzuschirmen, doch fühlten sie sich schwer wie Blei an. So dauerte es einen Moment, ehe ich den verstaubten Baldachin mit den eingewebten Mustern über mir erkannte. Es war derselbe, der sonst auch immer über meinem Bett gehangen hatte, doch erst jetzt fielen mir die Bilder auf, die sich in dem verblichenen Stoff verbargen. Blumenranken aus etwas dunklerem Stoff, fein gearbeitet und hübsch anzusehen. Warum hatte ich sie nicht früher erkannt?
Und woher kam das unerträgliche Gefühl der Hitze in meinem Hals, während um mich herum nur Kälte war. Warum brannte es so?
Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Schlag. Ich fuhr auf, hielt mir die Hand an die Kehle und hustete, so stark, dass mir Tränen über die Wangen liefen und ich um Luft zum Atmen ringen musste. Zwei Hände stützen mich, hielten mich aufrecht, während ich fast erstickte. Eine von ihnen strich mir sanft über den Rücken. „Ssht, beruhige dich. Es ist alles gut.“
Allein seine Stimme zu hören brachte das Fass zum überlaufen. Schluchzend sackte ich weiter in mich zusammen, rang noch hysterischer nach Atem. Die Hände um meine Kehle geschlungen spürte ich erneut den Schmerz, konnte erneut das leise knacken hören, als Zähne meine Haut durchstachen. Ich glaubte mein heißes Blut herab rinnen zu spüren. Entsetzt riss ich die Hände nach vorn, starrte auf meine Finger, die ich rot und nass erwartete. Doch sie waren nur blass, sonst nichts.
„Es tut mir leid, Felicitas. Es tut mir so leid“, flüsterte Herbert und zog mich an seine Brust. Seine Arme hielten mich. Hätten sie es in diesem Moment nicht getan, wäre ich wohl wie ein Kartenhaus in mich zusammengesunken. Ich war froh, dass er da war. Trotz allem.
Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an seine Brust, eine Hand wieder an meiner Kehle, die so unsagbar brannte. Ich konnte nichts sagen, traute mich nicht zu sprechen, aus Angst, jedes Wort würde die Schmerzen noch schlimmer machen.
„Es ist normal, dass es schmerzt“, erklärte Herbert. „Es fühlt sich heiß an, nicht? Du spürt den Biss noch.“ Es war mehr eine Frage, als eine Tatsache, auch wenn es letztendlich offensichtlich war. Ich nickte stumm, hielt dann aber inne. Warum war es normal, dass meine Kehle wie unter Feuer stand? Was sollte daran normal sein? Und wie war ich hierher gekommen? Ich konnte mich noch an den Ball erinnern, daran, dass ich mit dem Grafen getanzt hatte… Und an den Biss…
Verwirrt sah ich mich um. Das war nicht der Ballsaal. Und ich trug auch nicht mehr das Ballkleid, sondern ein verziertes Hemd aus weiß besticktem Leinen. „Was ist das?“, brachte ich leise krächzend hervor. Das Feuer in meinem Hals pulsierte mit jedem Wort stärker.
Herbert zog mich noch ein Stück enger zu sich und legte sein Kinn auf meinen Scheitel. Er schwieg einen langen Augenblick, ehe er etwas sagte. „Ein Totenhemd.“
Ganz gleich, welche Antwort ich erwartet hatte… diese zerschlug die Stille auf vernichtende Art. Ich schluckte schwer. Ein Totenhemd!? Das hieß, dass ich - „Wo ist Laura?“ Ich hustete, um das Brennen ein wenig zu besänftigen, doch es brachte nichts.
Herbert seufzte. „Sie ist nicht mehr hier. Vater meint, sie sei vor seinen Augen verschwunden.“ Ich nickte erneut, zu sehr auf meine Kehle konzentriert, als dass ich etwas hätte erwidern können. „Es ist wohl besser so“, fuhr er fort, „Wäre sie auf ihrem Zimmer geblieben, dann wärest du mit Sicherheit ihr… Untergang gewesen.“
Keine Klinge der Welt hätte mein Herz stärker verletzen können, als diese Worte. Übelkeit breitete sich in mir aus. Trauer, um den Verlust von allem, was mir lieb gewesen war. Meine Freundin, Laura: fort. Meine Eltern: fort. Selbst meine Zeit und alles, was ich mit ihr verband und an ihr liebte: fort. Ich war alleine zurück geblieben. Ich hatte nichts mehr, nicht einmal mein Leben.
Völlig unvermittelt tropften Tränen vor mir auf die Bettdecke. Wieder einmal strich eine Hand beruhigend über meinen Rücken, während meine Schultern ungehemmt mit jedem Schluchzen zuckten. Dann war auch diese fort und ich lehnte in all meiner Traurigkeit an Herberts Brust, die mir als einzige geblieben war.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Herbert die Manschettenknöpfe an einem seiner Ärmel löste und diesen hochkrempelte. Dann verschwand die Hand aus meinem Sichtfeld. Ich hatte nicht die Motivation, meinen Blick zu heben. Stattdessen starrte ich weiter auf die dunklen Flecken, die meine Tränen auf dem Bett hinterlassen hatten. Doch ich musste gar nicht aufsehen.
Der Geruch, der sich nach einem leisen Knacken ausbreitete, war atemberaubend. Im wahrsten Sinne des Wortes. Für einen Moment war ich völlig perplex, überfordert mit der Art und Weise, auf der ich den Geruch wahrnahm. Es war kein unbekanntes Aroma, im Gegenteil. Ich hatte es schon so oft gerochen, doch nie so intensiv. Nie so… durchdringend.
Als Herbert seinen Arm zu mir herab sinken ließ, waren meine Sinne schon längst nur noch auf das Eine gerichtet. Es war ein Wunder, dass ich seine Stimme und seine Worte noch vernahm. „Ich kann dir nicht alles zurück geben“, erklärte er leise, „aber einen Teil dessen, was dir gehörte, sollst du wieder haben.“
Ich starrte auf das Handgelenk, das er mir darbot, starrte auf die Bisswunde und die schmalen Rinnsäle aus dunklem Blut. Ich betrachtete es, fühlte mich dazu hingezogen, wie zu nichts vergleichbarem zuvor. Alles in mir lechzte nach dem roten Saft. Ich wollte ihn schmecken, wollte seine Energie in mir aufnehmen…
Es war ähnlich dem Gefühl, ehe ich aufgewacht war. Eine Energie, die jede Zelle meines Daseins zu ihr hin zog, ohne dass ich die Macht oder auch nur den Willen hatte, mich dagegen zu wehren. Ehe ich über mein Tun nachdenken konnte, umklammerte ich den Arm bereits mit beiden Händen und umschloss die Bissmale mit meinem Mund.
Es war überwältigend! Mit dem ersten Tropfen, der meine Zunge berührte, tauchte ich in völlig andere Sphären ein. Ich spürte die pure Lebensenergie durch meinen Körper fließen, spürte wie Wärme und Glück in mich hinein strömten. Ich fühlte mich wieder schwerelos, gebettet in einer Realität, die ich nie würde erreichen können. Ich schluckte schneller, um sie mir noch einen Moment länger zu erhalten. Ich wollte mehr davon, wollte einen Augenblick länger hier verweilen…
Dann wurde mir die Quelle meines Glücks entrissen – und wieder brach alle Wärme, alle Hoffnung zusammen. Ich schnappte ein letztes Mal nach dem Arm, wollte das Blut zurück, doch Herbert war schon aufgestanden und hatte so für eine Distanz zwischen und gesorgt, während er sein Handgelenk festhielt.
Zornig funkelte ich ihn an. Er sollte mir sofort das geben, was er mir gerade genommen hatte. Ich wollte mehr, viel mehr! Ich hatte mich gut gefühlt – lebendig! Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt wie in dem Moment, in dem ich das Blut auf der Zunge gespürt hatte. Und jetzt überließ er mich erneut der Kälte, die mich unter sich begrab wie die Welle den Schiffbrüchigen.
„Sieh mich nicht so an, Feli“, erhob er schließlich seine Stimme mit blutgetränktem Ärmel. „Ich brauche auch noch etwas zum leben.“
„Mir gehörte es! Ich will es zurück, ich will mein Blut zurück!“ Ich stand auf und wollte sein Handgelenk an mich reißen, doch Herbert fing mich ab. Er packte mich seinerseits an den Armen und wirbelte mich zu einer freien Wand herum, an der er mich festnagelte.
Ich zappelte unter seinem Griff, doch als das nichts brachte gab ich auf. „Felicitas, hör mir zu!“ Ich drehte mein Gesicht weg, doch Herbert schwieg. Es war die unangenehme Art des Schweigens, die mich letztendlich dazu brachte, ihm doch ins Gesicht zu sehen. „Ich bin dein Freund, hörst du? Dein Freund! Zum Teufel, ich bin wahrscheinlich der einzige, der dir in der Ewigkeit bleiben wird!“
Herberts energische Stimme ließ mich zusammen zucken, doch ich schob ihm trotzig mein Kinn entgegen. „Was ist mit dem Grafen? Er hat mich geküsst!“
Herbert starrte mich einen Augenblick lang an, dann ließ er den Kopf sinken. Sein Griff um meine Arme wurde lockerer, dann ließ er gänzlich los. Meinem Plan zufolge wäre ich ihm jetzt an den Hals gesprungen, doch seine Niedergeschlagenheit ließ mich inne halten. „Für Vater warst du doch nur Nahrung.“ Herbert wandte mir den Rücken zu und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Mit einem Mal war die Atmosphäre in diesem Raum wieder so anders, dass die Situation mich überforderte.
„Und was bin ich für dich?“, frage ich kleinlaut. Ich spüre noch ganz genau Herberts Zähne in meinem Hals, nachdem der Graf von mir abgelassen hatte. Ich hatte gehofft, es würde alles gut. Dann hatte Herbert mich traurig angesehen und zugebissen. Jetzt wollte ich wissen, ob ich nicht doch auch nur Nahrung für ihn gewesen war…
Herbert seufzte. „Du bist mehr als Nahrung, Felicitas. Wenn es nach mir ginge, hätte ich dich nicht gebissen. Dann wären wir Freunde geblieben.“
Ich hätte sauer und wütend auf Herbert sein können. Das hätte wohl jeder verstanden und nachvollziehen können. Doch statt der Kälte, die ich seit meinem Erwachen gespürt hatte, empfand ich plötzlich Mitleid. Ich trat einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu und strich mit einer Hand über seinen Rücken, ehe ich sie auf seiner Schulter liegen ließ. „Wir sind immer noch Freunde“, murmelte ich seinem Rücken entgegen.
Herbert verharrte einen Moment regungslos, dann wandte er sich langsam zu mir um, mit neuem Glanz in den Augen. „Danke“, flüsterte er und zog mich in eine Umarmung, die ich erwiderte. „Ich fürchte nur, dass du nicht mehr sehr lange auf dem Schloss wirst bleiben können“, fügte er schließlich hinzu, während wir die Umarmung wieder lösten.
Fragend zog ich die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?“
Der Grafensohn strich mit einer Hand vorsichtig über meine Wange, was mich hätte erröten lassen, wenn ich nicht schon gestorben wäre. „Nun ja, Vater lässt von Koukol ein Grab auf dem Friedhof für dich vorbereiten. In ein paar Wochen wirst du wohl dorthin… umziehen müssen.“
Ich biss mir auf die Unterlippe und sah befangen zu Boden, ehe ich an Herbert vorbei ging und mich auf die Bettkante des Himmelbettes setzte, auf dem ich bisher geschlafen hatte. „Der Friedhof also“, wiederholte ich das schaurige Wort. „Wenn ich ehrlich bin habe ich ein wenig Angst davor. Nicht unbedingt vor meinen ‚Gefährten’ dort, sondern eher davor, alleine zu sein.“
Herbert lächelte matt, setzte sich zu mir und legte eine Hand auf meinen Unterarm. „Das brauchst du nicht. Schau, einmal im Jahr ist der Mitternachtsball. Ich werde dich früher als die anderen Vampire holen und dann werden wir uns gemeinsam vorbereiten, so wie zu diesem Ball. Ich werde dafür sorgen, dass du immer ausreichend Blut abbekommst und ich werde dich oft besuchen kommen an deinem Grab und mit dir reden, wenn du dich einsam fühlst.“ Das Lächeln, das er mir schenkte, war ehrlich.
Ich erwiderte es halbherzig. Ich wusste, ich würde die Ewigkeit allein verbringen, auch wenn Herbert sie mir so angenehm wie möglich gestalten würde. Ich würde für viele viele Jahre meine Eltern und meine Freunde vermissen. Und jedes Jahr würde ich den Grafen wiedersehen, würde in ihm meine nicht erwiderte Liebe sehen und ihn beim Töten beobachten. Und ich würde Jahr für Jahr sehnlichst darauf warten, meine Zähne in das neu erwählte Opfer zu bohren, nur um einen flüchtigen Moment lang glücklich und vollkommen zu sein.
Herbert musste meine Grübeleien bemerkt haben, denn er lehnte sich zu mir herüber und platzierte einen freundschaftlichen Kuss auf meine Stirn. Ich schmunzelte schief. „Möchtest du noch mit ins Kaminzimmer kommen?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich würde jetzt lieber für mich allein sein. Es gibt da einige Menschen, von denen ich mich wenigstens symbolisch vorerst verabschieden möchte.“
Herbert lächelte verständnisvoll, legte mir zur Verabschiedung eine Hand auf die Schulter und ging dann leise zur Tür hinaus. Als er sie vorsichtig geschlossen hatte, zog ich meine Beine an. Zusammengekauert sank ich in meine Kissen, neue Tränen in den Augenwinkeln.
Meine Kehle brannte noch immer, ich hatte nach wie vor Durst und jedes Mal, wenn etwas mein Hals berührte, spürte ich den Biss des Grafen, gierig und schmerzhaft. Doch etwas hatte sich verändert… In mir war etwas erwacht. Das Blut hatte es entfesselt und nun beherrschte es meine Gedanken, ließ mich sogar kaum noch um die Verluste trauern, die ich so gerne beweint hätte. Doch so konnte ich nur den Durst beweinen, konnte nur ersehnen, was mir ein Jahr vergönnt bleiben würde. Blut…
Erst jetzt begriff ich, was „Gier“ wirklich hieß. Und die Erkenntnis darüber, dass sie unstillbar war, trieb mir neue Tränen in die Augen. Ich hatte mir die Ewigkeit nicht so ausgemalt, nicht auf diese Weise. Nicht um den Preis. Doch jetzt musste ich mit ihr leben und sie auf die beste Art für mich nutzen. Ich wusste, es muss mir gelingen. Denn ich hatte ein Ziel.
Eines Tages, wollte ich meine Eltern wieder sehen. Und ich wollte Laura wieder sehen und mich bei ihr entschuldigen. Für all das, was geschehen war. Ich wollte noch ein Mal in die Gegenwart und mit meinem Frettchen schmusen.
Und wenn es das Letzte war, das ich tun würde…
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Zukunft ist Vergangenheit
FanfictionTanz der Vampire (TdV) // Was soll schon schief gehen, wenn man sich eines seiner Lieblings-Musicals ansehen möchte? Nun, für Laura scheint das Schicksal nicht viel Humor übrig zu haben. Mit ihrer neuen Bekanntschaft Feli gerät sie in einen Strom de...