Teil 60 ... für die Wahrheit

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Ich sah in ihren Augen, dass sie nicht an meine Worte glaubte, aber sie sagte nur: "Vielleicht sollten wir einfach morgen weiter reden und jetzt schlafen. Ist ja schon spät." Ich stimmte ihr zu.
"Soll ich gehen?" fragte sie mich.

Ich griff nach ihren Handen.
"Bitte bleib."

Wir lagen, wie zwei Löffelchen eng aneinanger geschmiegt in meinem Bett. Ich spürte ihre Wärme und ihr Arm um mich ließ mich zur Ruhe kommen und doch konnte ich keinen Schlaf finden. Sobald ich meine Augen schloss, spukten Fetzen von Erinnerungen durch meinen Kopf und Bilder aus meiner Vergangenheit ließen mich zusammen zucken.
"Carol?" flüsterte ich unsicher in die Nacht. "Ja?" fragte sie zurück. Sie klang noch genauso wach wie ich es war.
"Es ist kompliziert, das Verhältnis zwischen meinen Eltern und mir." Ich holte tief Luft. "Das war es schon immer, von Anfang an. Es ist eine längere Geschichte."
"Ich habe Zeit." antwortete Carol. Zärtlich umfasste ich ihre Hand als müsste ich mich vergewissern, dass sie wirklich da war.

"Becca..." Allein als ich ihren Namen aussprach, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. "Deine Schwester?" Carol wusste sofort, wen ich meinte, obwohl ich sie nur ein einziges Mal ganz kurz erwähnt hatte, nicht lange nach unserem Wiedersehen.
"Sie war schon 16 bei meiner Geburt, dabei ihren eigenen Weg einzuschlagen. Meine Eltern hatten eigentlich andere Pläne mit ihrem Leben als wieder Windeln zu wechseln und nochmals ein Kind großzuziehen. Doch dann kam alles anders, dann kam ich. Wer sich wirklich gefreut hat über mich, war meine Schwester. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich mehr liebte als mein Vater und meine Mutter zusammen."
Ich musste mich einen Moment sammeln, bevor ich fortfahren konnte.
"Sie saß damals mit mir im Auto." Oh Gott, es raubte mir soviel Kraft. Erneut stieg diese Übelkeit in mir auf.
"Neben mir - und - ..." Ich schluckte und spürte die Rauheit meiner Kehle. "... und sie hat den Unfall nicht überlebt." Es war wie ein Strudel, der mich nach unten zog. Das Wissen um dieses furchtbare Ereignis presste mir die Luft aus den Lungen.
"Was ist passiert?" fragte Carol vorsichtig nach.  Ich schloss meine Augen und merkte nicht, wie sich meine Hand zu einer Faust ballte, die ich fest an mich presste. Wie ein Film lief alles zum wiederholten Male vor meinem inneren Auge ab. So oft hatte ich ihn schon gesehen und jedes Mal war es  wieder so schlimm, dass ich das Gefühl hatte, es zeriss mich von innen. Ich rang um Fassung und ohne meine Augen zu öffnen sprach ich weiter.
"Becca hat mich an diesen einen Abend abgeholt. Es war schon dunkel und regnete." Die Erinnerung war so real, dass ich den Regen hören konnte. "Da war dieser Transporter ..." Die Scheinwerfer blendeten mich. Ich merkte nicht wie ich zitterte.
"Und dann war plötzlich alles schwarz."
Krachen, Splittern und die Tropfen schlugen hart auf meiner Haut auf, ich  ertrank im Regen, versank in der Dunkelheit und schmeckte Blut.
"Für meine Schwester kam jede Hilfe zu spät. Doch ich ...". Ich stockte und sammelte meine restlichen Kräfte für die letzten Worte: "ich, ... ich habe überlebt." Die Worte schwebten seit diesen einen Augenblick wie ein Damoklesschwert über mir. Eine bittere Wahrheit, die sich nie ändern würde.
"Ich lebe." hallte es in meinem Kopf und meine Narbe an der Stirn begann zu schmerzen. Sie sollte mich mein ganzes Leben daran erinnern, damit ich es nie vergaß. Das Leben hatte mich gekennzeichnet. Ein Zeichen von Schuld und Verlust.
"Es tut mir so leid Sam." Lautlos fanden Tränen ihren Weg, aber der Schmerz blieb. Er würde nie aufhören. Nie!
"Es war ein Unfall. Du bist nicht schuld." Als könnte Carol meine Gedanken hören. Doch ich ließ ihre Worte so im Raum stehen. Mir fehlte einfach die Kraft um ihr zu widersprechen. Stattdessen versuchte ich wieder in die Gegenwart zurück zu kommen und den Bogen zu dem Anruf meiner Eltern zu schlagen.
"Eine Weile nach dem Unfall haben meine Eltern ihre Zelte hier abgebrochen und sind ins Ausland gezogen. Das hatten sie schon so lange vorgehabt. Unser Kontakt ist seitdem eher sporadisch. Nächste Woche  jährt sich Beccas Todestag und dann sind sie immer ein paar Tage in der Stadt." Mir versagte die Stimme.
"Seht ihr euch?" wollte Carol wissen. Mein Blick fiel wie automatisch auf mein Handy, dass auf meinen Nachttisch lag. "Vielleicht. Sie melden sich." Ich hörte, wie sie etwas sagen wollte, aber sie blieb stumm. Dafür war ich ihr insgeheim mehr als dankbar. Zu mehr war ich nicht mehr im Stande. Sanft strich sie über meinen Kopf und meine vom stillen Weinen heiße Wange. Ich schmiegte mich in ihre Hand und sog diese Berührung auf wie ein Schwamm. Nach einer Weile legte sie ihren Arm wieder wortlos um mich. Dunkelheit und Stille hüllten uns ein und ich spürte ihren warmen Atem in meinem Nacken. Die Erinnerungen mit all den aufwühlenden Gefühlen hatten mich erschöpft und langsam fielen mir die Augen zu, auch wenn ich Angst davor hatte einzuschlafen. Doch plötzlich war ich wieder hellwach. Hatten mir gerade meine Sinne einen Streich gespielt? Nein - ich hatte es ganz genau gehört. Mein Herz ging mit einem Schlag dreimal so schnell. Obwohl Carol diese wenigen Worte nur in die Nacht geflüstert hatte, hatte ich sie doch ganz deutlich vernommen. Ich presste meine Lippen fest aufeinander. Sie sollte nicht merken, dass ich noch wach war. Ein Feuer breitete sich in meiner Brust aus und verunsicherte mich. Wie erstarrt lag ich da, rührte mich nicht und hatte Schwierigkeiten normal weiter zu atmen. Und für einen kleinen winzigen Moment wünschte ich mir, sie hätte es nicht ausgesprochen:

"Ich liebe dich."

Alles was bleibt ... | girlxgirl teacherxgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt