Teil 59 An der Zeit ...

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Noch immer vernahm ich Carols Stimme

"Ich bin da." flüsterte sie. "Ich bin da." Ihre Arme umschlangen mich und ich hielt mich daran fest, wie an einem Rettungsring. In diesem Moment brauchte ich diese Nähe, um nicht den Halt zu verlieren. Da war kein Feuer mehr, aber die Kälte, die ich eben noch verspürt hatte, wisch einer unbeschreiblichen Wärme, die sich schützend um mein Herz legte.
Hatte ich die Vergangenheit nicht abgehakt? Ich hatte es mir geschworen diesen Schmerz und diese Sehnsucht nicht mehr an mich heran zu lassen, denn sie machte mich schwach, sie zerstörte mich. Ich hatte damit abgeschlossen, dachte ich. Vielleicht machte die Liebe, die mich Carol fühlen ließ, empfindlicher, verletzlicher. Nicht anders konnte ich es mir erklären, warum mich dieser eine Anruf so aus der Bahn warf und die wenigen gewechselten Worte wie ein Schwert in meine Brust eindrangen.
Luft - ich brauchte Luft und öffnete das Fenster. Die Nacht war angenehm kühl und jeder Atemzug linderte nach und nach dieses schmerzhafte, wunde Gefühl an meinem Herzen. Noch immer hielt mich Carol in ihren Armen und ich war ihr so dankbar dafür. Ich sollte es ihr sagen, dachte ich mir und drehte mich zu ihr um. Ihre Hände ließ ich in meine gleiten und für einen Augenblick schien kein einziges Wort über meine Lippen kommen zu wollen. 
"Ich bin da." hörte ich wieder Carols Stimme. Womit hatte ich das nur verdient?

"Danke." hörte ich mich selbst sagen und musste dabei schlucken. Ich wollte nicht schon wieder weinen und kämpfte dagegen an. "Es waren nur meine Eltern." beantworte ich Carols unausgesprochene Frage und versuchte ein Lachen, dass mir nicht wirklich gut gelang. Es sollte beiläufig klingen, unwichtig, alltäglich. Doch stattdessen erdrückten mich beinahe die Gedanken bei diesen Worten .

"Deine Eltern?" wiederholte sie fragend. Ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Ein Blick in ihre warmen, dunklen Augen, die trotz der Dunkelheit funkelten, verriet mir, dass sie mehr wissen wollte, nach Antworten suchte, verstehen wollte. Doch wie weit zu gehen war ich bereit? Konnte ich darüber sprechen? Wollte ich darüber sprechen? Mein Hals fühlte sich unendlich trocken an und meine Augen brannten. Ich spürte Carols Nähe ohne, dass sie mich erdrückte.  War es nicht an der Zeit endlich zu vertrauen?
"Willst du reden?" frage sie nach. Ich wollte es, wirklich - so sehr, doch ich war mir nicht sicher, ob ich es konnte.

Erschöpft von so vielen Gefühlen, die mich durchfluteten, sank ich ins Sofa hinein. Ich atmete tief ein und bekam doch keine Luft, weil etwas schwer auf meiner Seele lastete. Carol machte etwas Licht und verschwand für ein paar Minuten in der Küche. Ich wollte ihr so gern davon erzählen, alles, ja alles und doch schnürte mir der Gedanke alles zu. Niemanden hatte ich je davon berichtet. Keiner wusste davon. Erschöpft schloss ich die Augen. "Warum kann ich nicht einfach einschlafen?" schoss es mir durch den Kopf. Es war nur eine Nacht gewesen. Ein verdammter Fehler und ich hatte alles, alles was ich liebte verloren. Alles.

Carol kam mir zwei Tassen Tee zurück und setzte sich zu mir. Ihre Hand ruhte auf meinem Knie und sorgte dafür, dass ich mich langsam etwas entspannte. Ich blickte in ihr Gesicht. "Wie schön sie ist." Kam mir der Gedanke in dieser doch so unpassenden Situation. Aber das war sie. Wunderschön und wieder kamen da diese Zweifel in mir auf und ließen den Tee bitter schmecken.

"Du brauchst nicht darüber reden." Carol sprach die Worte so leise, dass sie fast nur wie ein Flüstern im Raum klangen. "Doch ich muss..." stieß ich aufgewühlt hervor. "Du musst überhaupt nichts." widersprach sie sanft. Ich ergriff ihre Hand und hielt sie fest. "Doch - ich möchte das." Noch nie hatte ich mit irgend jemanden über meine Eltern gesprochen oder über meine Schwester und was mit meiner Familie passierte nach dem Unfall oder was mit mir geschehen war seit dieser einen Nacht. Ohne das ich es erklären konnte, kroch eine unbestimmte Angst in meinen Inneren auf und griff wieder nach meinem Herzen. Ich kannte dieses Gefühl nur zugut. Es machte mich schwach und kraftlos, wie ein schwerer Stein lag es auf meiner Brust, der sich nicht weg nehmen ließ.

"Ich ärgere mich über mich selbst, dass es mich so trifft." sagte ich mehr zu mir als zu ihr. Außerdem war ich auch ein wenig wütend auf meine Eltern, weil ihr Anruf mich nun dazu zwang wieder in der Vergangenheit zu graben, statt sie endlich ruhen zu lassen, so wie ich es für mich beschlossen hatte. Aber was sind schon Vorsätze? Sind sie nicht da um gebrochen zu werden. Nervös fuhr ich mir durch die Haare und überlegte wie und wo ich am besten anfangen könnte. Die Gedanken kreisten nur wie verrückt in meinem Kopf. Das war die Untertreibung des Tages. In Wirklichkeit wirbelten sie wie ein verdammter Tornado durcheinander, dass mir schwindelig davon wurde. Je mehr ich mich bemühte die richtigen Worte zu finden, um so schlimmer wurde es. "Ich bin gleich wieder da." stieß ich gequält hervor und flüchtete ins Bad. Mir war so übel.  Mein Magen rebellierte und ich konnte nicht verhindern, dass ich mich übergeben musste. 

Als das Wasser im Waschbecken lief, vernahm ich Carols Stimme. "Alles gut. Es geht schon wieder. Bin gleich wieder da." Sie sollte sich auf keinen Fall Sorgen machen. Ich hielt mich am Waschbeckenrand fest und spürte die Kühle des Wasser auf meiner Haut. Ein leichtes Frösteln durchzog mich. Ich fühlte mich erschöpft und das nicht nur körperlich. Warum nahm mich das alles nur so mit?
Mit besorgten Blick empfing mich Carol als ich wieder aus dem Bad trat. "Da hab ich wohl irgendetwas falsches gegessen." versuchte ich die Sache abzutun. Ich sah in ihren Augen, dass sie nicht an meine Worte glaubte, aber sie sagte nur: "Vielleicht sollten wir einfach morgen weiter reden und jetzt schlafen. Ist ja schon spät." Ich stimmte ihr zu.
"Soll ich gehen?" fragte sie mich.

Ich griff nach ihren Handen.
"Bitte bleib."


Alles was bleibt ... | girlxgirl teacherxgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt