entfremdet

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Mit kühler Miene hockt Guk da und hält seine dünnen Finger in die heiße Flamme der dicken Kerze vor ihm. Sein ganzes Zimmer ist finster, nur das unruhige Licht der Kerze wirft verzerrte Schatten an die Wände. Ein bisschen sieht es aus, als würden die Schatten selbstständig umherwandern und wie auf Ecstasy zu Technobeats tanzen. Bevor sie je zur Ruhe kommen können, schnippt Guk mit Zeigefinger und Daumen in die Flamme oder zieht seine Handfläche hindurch. 

Ob ihm die Hitze des Feuers nicht weh tut? Nein, nicht wirklich. Er sitzt zwar da an seinem Schreibtisch vor der Kerze und spielt mit der Flamme, aber eigentlich ist er nicht da. Sein Körper bewegt sich von alleine, seine Psyche schaut nur von außen zu. Er fühlt sich, als würde er neben seinem Körper stehen und ihn nur beobachten. Als wäre das gar nicht seine schwarz tätowierte Hand, die sich da an den Flammen versengt. Als wäre es nicht er, dem dieser Körper gehört. Ein bisschen fühlt er sich wie Sasori aus Naruto.

Ein weiteres Mal hält Guk seinen Zeigefinger knapp über das Feuer. Entfremdet sieht er der Haut dabei zu, wie sie sich rötlich verfärbt vor Hitze. Schaut ganz schön aus, findet er, seine blasse, glatte Haut und dann diese gerötete Fingerspitze, hätte auch ein Aquarell sein können. Ihm gefallen die aesthetics, deshalb trägt er auch die tiefschwarzen Klamotten und hat das Licht ausgeschaltet gelassen. Sollte ja schön zum Anschauen sein. 

Das Zimmer hingegen entspricht nicht wirklich Guks Beauty Standards. Der Schreibtisch, an dem er gerade sitzt, ist vollgeräumt mit Blödsinn und Krams. Grinder und rolling papers liegen neben leer geschriebenen Kulis und dreckigem Geschirr. Obwohl er einen Aschenbecher hat, kugelt genug Asche einfach so auf der zerkratzten Tischplatte herum. Vereinzelt findet man Geldmünzen und zerknitterte Zettel, auf denen etwas Wichtiges drauf stehen könnte, wenn es tatsächlich noch wichtige Sachen in Guks Leben geben würde. 

An den dunkel gehaltenen Schreibtisch grenzt ein eintöniges Bett, bei dem die durchgelegene Matratze auf einem metallenen Lattenrost liegt. Das Leintuch ist schmutzig, übersät mit Flecken von Mikrowellenessen, Schweiß und sonstigen Substanzen, die man wahrscheinlich eh lieber nicht identifizieren will. Taschentücher, sowohl mit Rotz und Tränen als auch mit cum beschmiert, liegen zerknüllt überall herum. Am Boden stapelt sich weiteres Geschirr, das dringend mal abgewaschen werden sollte und ausgetrunkene Alkoholflaschen. Klamotten findet man auch genügend da unten, wahrscheinlich mehr als in dem kleinen Kunststoffschrank, in den sie eigentlich reingehören würden. Wäre eine Ratte vorbeigerannt, hätte es wirklich keinen gewundert. 

Zurück zu Guk. Nach einigen Sekunden zieht er den Finger aus der vibrierenden Hitze und mustert ihn distanziert. Das ist nicht sein Finger. Er würde ja den Schmerz spüren, wenn es seiner wäre. Aber da ist nichts. Keine Empfindung, kein Signal, das die Neuronen eifrig herumschicken würden. Sein Geist hängt nur irgendwie in diesem fremden Körper fest und kann ihn absurderweise kontrollieren. Naja, Zufälle gibt's! 

Vielleicht ist es auch nur Zufall, dass die linke, unversehrte Hand genau in diesem Moment, in dem ihm auch das Verlangen danach in den Sinn kommt, den halb abgebrannten Joint an seine Lippen hebt. Tief zieht er den Rauch in seine Lunge, spürt nicht, wie die Stoffe durch seine Kehle strömen, aber spürt sehr wohl, wie seine Sinne benebelt werden. Immer weiter driftet er weg von sich selbst, entfremdet sich von seinem Körper. Wahrscheinlich würde er sich nicht einmal mehr wiedererkennen, wenn man ihm jetzt einen Spiegel vors fahle, tätowierte Gesicht halten würde.

Dieser Körper...er ist kein Teil von Guk. Guk besteht nur aus dem Gedankenkonstrukt, das hier eigenständig im Raum schwebt. Zum Spaß lässt er die Finger nochmal durch die Flamme tänzeln und zieht ein weiteres Mal kräftig am Joint. Viel geht in seinem Kopf ja nicht mehr vor, das Einzige, woran er denkt, ist, dass dieser Körper, der ja auch nur eine zufällige Kollaboration von Sauerstoff, Kohlenstoff und Co. ist, nicht mit ihm verbunden ist. Sonst wäre es wohl leicht masochistisches Verhalten, wenn er sich hier absichtlich verbrennt. Aber so könnte es höchstens noch an Sadismus durchgehen, auch wenn sein eigentliches Motiv Langeweile ist. Irgendwie muss man sich die langen Freitagnächte halt vertreiben. 

Um den Spaß noch zu maximieren, klemmt er sich den qualmenden Joint zwischen die trockenen Lippen und greift mit der Hand nach seinem Handy. Jetzt wird schön klassische Musik gegönnt, bisschen Tschaikowsky und die Minuten verfliegen schnell wie Sekunden. Gedanklich summt er die Melodien mit und dreht den Bluetooth Lautsprecher so laut auf, dass er nicht mal mehr das Brausen der Autos von draußen hört. Sinnesbetäubung kann er wirklich gut. Übung macht eben den Meister, ihr wisst. 

Das Wachs der Kerze, das sich bis jetzt in einer flüssigen Lacke beim Docht gesammelt hat, rinnt über den Kerzenrand hinaus und fließt über das feste Wachs hinunter auf den Kunststofftisch. Unbetroffen sieht Guk dabei zu, wie sich die Flüssigkeit blasenartig am Fuß der Kerze sammelt und langsam größer wird. Paar Brösel Gras, die ihm beim Drehen aus dem pape gefallen sind, werden vom Wachs verschluckt, aber das hätte ihm egaler nicht sein können. Probehalber steckt er den Finger in das heiße Wachs und holt ihn nach einigen Sekunden wieder raus. Etwas Wachs rinnt an seinem Finger herunter, das meiste verfestigt sich schnell und bildet eine eng anliegende cremefarbene Haut. Ein bisschen dreht er den Finger und beobachtet das flüssige Wachs beim Trocknen. Noch immer spürt er nichts. 

Was tut er hier eigentlich? Warum sitzt er da mitten in der Nacht an seinem Schreibtisch, fingert am Feuer herum und bläst sich sein Bewusstsein weg? Und woher kommt die Taubheit in diesem Körper? Nicht falsch verstehen, diese Fragen stellt er sich nicht selbst, dafür ist sein Gehirn schon zu benebelt, aber wir werfen sie mal so in den Raum. Beantworten kann man sie nicht wirklich, also lassen wir sie wieder links liegen, ähnlich wie Guk es mit der dreckigen Wäsche schon wochenlang macht. Einfach in eine Ecke schieben, denn aus den Augen, aus dem Sinn. 

Ja, so hätte dieser Freitagabend für Guk wie gewohnt weiterlaufen können, nur klingelt irgendwann die Türglocke. Irritiert öffnet er langsam die Augen und horcht auf. Und tatsächlich, da klingelte jemand. Ganz komisch. Das Geräusch hätte er direkt fast nicht mehr erkannt. Nicht die beliebteste Wohnung hier, wie man sich vielleicht denken kann. 

Ohne irgendwas im Kopf zu haben, steht Guk ungelenk auf, wandelt wie automatisch zur Tür. Lang braucht er ja nicht, nach seinem Schlafzimmer, wo er bis jetzt noch gezündelt hat, kommt ein Mini-Gang mit zwei Türen, eine fürs Bad, eine für die Küche, und das war's auch schon. Potential zum weiteren Beschreiben gibt es zwar durchaus, aber Guk nimmt das alles gar nicht mehr wahr, also wieso sollte es für uns von Bedeutung sein? Er drückt einfach die Türklinke runter, die Mühe, durch den Gucker zu schauen, macht er sich erst gar nicht. War ja noch nie wer Böses da bis jetzt, warum sollte es heut so sein.

Nur ist es heute so weit. Und das Böse steht da vor Guk in Form eines ungeduldig dreinschauenden, lockigen Pizzaboten. 


gottlose welt || tgukWo Geschichten leben. Entdecke jetzt