Kapitel 3

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Noch bevor er wach wurde, verließ ich die Wohnung. Ich musste meine Aufgaben erledigen. Einkaufen, dafür Sorgen, dass es etwas zu essen gab. Natürlich dachte niemand daran, mir meine Aufgaben abzunehmen. Oder mir wenigstens zu helfen. Jeder kümmerte sich um sein Zeug.

Nach dem Einkaufen würde ich noch zum Friedhof gehen. Es war meine Idee gewesen unser Baby hier zu beerdigen. Ich wollte, dass es in meiner Nähe bleibt. Dass ich es besuchen kann, wenn mein Herz danach schreit. Ich hatte mit Widerspruch gerechnet, aber – Überraschung – den anderen war es egal was mit meinem Baby passierte. Und so stand das Grab im Muslimischen Abteil des Münchner Westfriedhofs.

Ich schob den halbvollen Einkaufswagen vor mir her und war schon auf dem Weg zur Kasse, als ich an der Babyabteilung vorbei kam. Ich hielt inne und umklammerte den Griff des Wagens fester. Windeln, Babybrei, Schnuller. Dieser Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich.

Ich schloss die Augen und fühlte plötzlich wieder das kalte Ultraschallgel auf meinem Bauch.

'Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge.'

Die Worte meines Arztes hallten in meinem Kopf wider. Mein Blick schweifte vom Monitor zum Arzt und wieder zurück. Ich strahlte über das ganze Gesicht, Glücksgefühle durchströmten mich.

„Wird das heute noch was?“, sagte jemand und riss mich aus meiner Trance.

Ich wirbelte herum und war einen Augenblick lang verwirrt. Ich lag nicht mehr im Behandlungszimmer, sondern stand mitten im Einkaufszentrum. Der Gedanke schnürte mir die Kehle zu, meine Knie begannen zu beben. Mich durchfuhr wieder ein schmerzhaftes Zittern und alles verschwamm vor meinen Augen.

„Hallo? Wie wäre es, wenn sie mal Platz machen?“

Eine Frau stand neben mir und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ich murmelte eine Entschuldigung und wollte weiterlaufen, doch ausgerechnet im selben Moment, fing der Husten wieder an. Mir blieb die Luft weg.

„Na toll“, meinte sie genervt.
„Man kann auch übertreiben! Sehen sie denn nicht, dass es ihr nicht gut geht?“

Die Frau verdrehte die Augen, beugte sich über meinen Einkaufswagen und schnappte sich eine Packung Windeln. Dann verschwand sie auch schon einen Lidschlag später, um die Ecke.

Der Mann, der gesprochen hatte, legte seine Hand kurz auf meinen Rücken.

„Alles in Ordnung bei ihnen?“, fragte er.

Ich schaffte es zu nicken, denn zum Reden war ich gerade nicht imstande. Nachdem ich endlich wieder eine klare Sicht vor mir hatte und der Husten nachließ, hob ich meinen Kopf und sah direkt in ein Augenpaar, das mir eine Gänsehaut einjagte. Ich kannte sie. Ich kannte diese Augen.

„Brauchen sie Hilfe?“

Seine sanfte Stimme, passte überhaupt nicht zu seinem harten Gesicht. Die dunklen Augen strahlten Kälte aus. Und Schmerz. Ich schüttelte meinen Kopf und griff mir an den Hals, der fürchterlich brannte. Vielleicht sollte ich Rebeccas Rat annehmen und zum Arzt gehen.

„Kennen wir uns?“, sprach der Mann weiter.

Ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesen Augen nehmen. Sie faszinierten mich. Beim genaueren Hinsehen merkte man, dass seine Iris von tiefem Grau war. Der Mann legte seine Stirn in Falten und schien nachzudenken.

„Nicht dass ich wüsste“, antwortete ich schnell.

Mal abgesehen davon, dass wir ein paar Minuten nebeneinander am Friedhof standen. Nein, ich kannte diesen Mann nicht. Es war also keine Lüge. Bei all den Gedanken, die gerade durch meinen Kopf geisterten, war es ein Wunder, dass ich nicht vergaß mich zu bedanken. Noch während ich meinen Dank murmelte, suchte ich auch schon das Weite.

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