Kapitel 33

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BITTE BIS ZUM SCHLUSS DURCHLESEN!



Der Tacho zeigte fast 80 km/h an, als mein Blick auf ein kleines Kind fiel, das vor dem Zebrastreifen stand und gerade die Straße überqueren wollte. Ich trat instinktiv die Bremse durch. Die Reifen quietschten auf den Asphalt und hinterließen eine schwarze Bremsspur. Mein Kopf knallte gegen das Lenkrad und mir wurde kurz schwindelig.

Was war nur in mich gefahren? Ich war gerade wie eine Verrückte durch die Ortschaft gerast und hätte beinahe ein Kind überfahren – so wie Berat.

Der kleine Junge, der am Straßenrand stand, sah in meine Richtung und legte den Kopf schief. Unsere Blicke trafen sich. Ich hielt den Atem an, umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden. Dann lächelte der Kleine mich an und überquerte die Straße. Seine Gestalt verblasste und auf einmal war er weg – einfach weg! Ich war wie gelähmt.

Erst als jemand an die Scheibe meiner Fahrertür klopfte, wurde ich aus meiner Schockstarre geholt. Draußen war es schon lange dunkel, doch durch das Licht der Straßenlaternen erkannte ich, dass ein Mann dort stand. Mit zitternden Hände kurbelte ich das Fenster herunter.



„Was soll das? Sie blockieren die ganze Straße", sagte der fremde Mann.



Er wirkte ziemlich genervt. Hinter mir wurden nun auch Hupen laut.



„Ich musste doch anhalten .. ich .. also das Kind. Es wollte die Straße überqueren und -"

„Welches Kind?"

„Da .. also, ich meine da ..", stotterte ich und zeigte nach vorne.



Doch da stand niemand. Hatte ich mir das etwa nur eingebildet? War das wirklich möglich? Verlor ich jetzt etwa den Bezug zur Realität? Der Mann zog die Augenbrauen zusammen und sah mich misstrauisch an. Er dachte wohl, ich wolle ihn auf den Arm nehmen. Jedenfalls wies er mich an endlich loszufahren und verschwand dann wieder.

Ich hatte durch das plötzliche Bremsen den Motor abgewürgt, und auch jetzt brauchte ich drei Versuche, um die Kupplung anständig kommen zu lassen. Mein ganzer Körper bebte. Und da war ein ganz mulmiges Gefühl in meinem Magen, das immer stärker wurde.




Irgendwie hatte ich es geschafft nach Hause zu fahren. Erst als der Wagen aus war und mir der schneidende Wind ins Gesicht blies, merkte ich, dass ich vergessen hatte das Fenster hochzukurbeln. Meine Nase lief. Meine Hände waren so kalt, dass sie bereits taub waren. Nur mit Mühe konnte ich den Schlüssel aus dem Zündschloss holen. Ich stolperte aus dem Wagen und lachte auf, als ich beinahe auf der Straße landete. Und dann kamen wieder Tränen, laut, schnell, heftig, alles verschlingend, wie eine brutale Welle, die jeden Surfer vom Brett reißt.

Ich konnte nicht es fassen. Jeta war ... sie war meine Mutter. Sie hatte mich die ganze Zeit über angelogen. Die ganze verdammte Zeit über! Ich schlug mir auf die Wangen, versuchte mich zur Besinnung zu bringen. Ich wollte die Fassung bewahren, dabei hatte ich diese schon lange verloren. Mein Gefühlslage war nicht zu beschreiben. Ich wollte weinen, schreien, um mich schlagen, alles auf einmal. Ich wollte den Hass aus mir heraus brüllen, die Enttäuschung in Tränen ertränken. Schwer atmend hob ich meine Handtasche auf, die auf den Boden gefallen war. Die Straße war leer, die Gegend ruhig. Alle hatten sie sich in ihre Häuser verkrochen, aßen zu Abend oder erholten sich nach einem anstrengenden Tag, eingekuschelt in warmen, flauschigen Decken vor dem Kamin.

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