Der Wind wehte mir ins Gesicht und ließ mein Haar flattern. Wie jedes mal, zog sich mein Herz zusammen, als ich das große Eingangstor des Friedhofs durchquerte. Es waren erst zwei Wochen vergangen und die Trauer saß tief. Zumindest bei mir.
Ich war gefangen in meinem Schmerz, der mich jedes mal aufs Neue erstickte und meine Seele Stück für Stück auseinandernahm. Ich ging den Pfad entlang und erreichte wenig später mein Ziel. Eine Weile blieb ich reglos stehen, spürte, wie die Tränen aus meinen Augen schossen, mir über das Gesicht liefen. Es tat weh. Es tat so unbeschreiblich weh. Hier war der Schmerz besonders intensiv. Er raste mit unfassbarer Geschwindigkeit durch meinen Körper, nahm von jeder Faser Besitz. Das Atmen fiel mir nun schwerer.
Ich ließ mich vor dem Grabstein nieder und fuhr mit meiner Hand über die Marmorplatte.
Kalt. Genauso, hatte er sich angefühlt, als er auf meiner Brust lag. Leblos, mit geschlossenen Augen, die niemals das Licht der Welt erblicken sollten. Die kalten Fäuste, die sich niemals um meine Finger schließen sollten. Der kleine Mund, aus dem niemals das Wort Mama kommen sollte. Sterben, ohne wirklich gelebt zu haben. War das Fair?
Ich spürte ihn in mir, wie er wuchs, wie er mich mit seinen Tritten ärgerte und mir dabei jedes mal ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Ich hörte sein Herz schlagen, sah seine Fingerchen auf dem Monitor. Eines Morgens saß ich in der Küche und wartete sehnsüchtig auf den nächsten Tritt in meinem Bauch, doch er kam einfach nicht..
Ich riss die Augen auf, die ich unbewusst geschlossen hatte und schnappte nach Luft. Die Abendsonne verschwand hinter dem Horizont und ließ die Umgebung noch düsterer wirken, als sie ohnehin schon war. Mir wurde schwer ums Herz. Der Knoten in meiner Brust sollte sich einfach nicht und nahm mir die Luft zum Atmen.
In mir drinnen fing es an zu brodeln, ich spürte die aufkommenden Tränen. Mit schnellen Schritten schlängelte ich mich durch die Grabsteine. Ich zuckte zusammen, als greller Blitz am Himmel erschien und die Nacht in helles Licht tauchte.
Es fing an zu regnen. Ich rannte zum überdachten Eingangsbereich der kleinen Kapelle, suchte Schutz vor dem Regen und fischte mein klingelndes Handy hervor. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, dass er es sei. Dass er anrief, um mich zu fragen wo ich sei. Dass er sich Sorgen mache und ich nach Hause kommen solle – Wunschdenken.
Ich drückte den Anruf meiner besten Freundin Rebecca weg und ließ das Handy wieder in meine Handtasche gleiten. Ich wollte jetzt mit niemanden reden. Ich wollte allein sein. Allein mit meinem Schmerz und meinem Kummer. Doch selbst hier blieb mir dieser Wunsch verwehrt.
Es goss nun in Strömen. Jemand rannte geradewegs in meine Richtung und suchte ebenfalls Zuflucht vor dem Regen. Ich erkannte nur vage die Gestalt eines Mannes. Mögliche Gefahr? Vielleicht. Ich wusste es nicht. Der Mann wischte sich über das Gesicht und drehte anschließend seinen Kopf in meine Richtung. Es war zu dunkel, um wirklich etwas zu erkennen.
Doch dann – ein erneuter Blitz. Der Moment schien eingefroren zu sein. Ein vor Schmerz verzerrtes Gesicht erschien vor mir. Dunkle Augen, die in Tränen schwammen. Klatschnasse Haare, die ihm in die Stirn fielen. Dieser Mann war keine Gefahr. Er litt. Genauso, wie ich litt. Er litt unsagbare Schmerzen, trauerte um den Verlust eines geliebten Menschen. Das spürte ich. Das sah ich. Ich wandte meinen Blick ab und starrte zu Boden.
Minuten verstrichen. Der Regen schien kein Ende zu finden. Mir war die Anwesenheit des Mannes durchaus bewusst. Er stand unmittelbar neben mir und schien genauso wie ich darauf zu warten, dass es aufhörte zu regnen.
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Seelensplitter
General FictionVerlust. Ein starkes Wort. Es gibt so viele verschiedene Arten davon, aber keine schmerzt so sehr, wie der Verlust des eigenes Kindes - ob ungeboren oder nicht. Die Seele zerbricht und die Splitter bringen die Wunde immer wieder von Neuem zu bluten...