Er sitzt am Fuß-Ende des Bettes und schaut in meine Richtung. Ich weiß nicht wieso, aber ich muss an meine Mutter denken. An mein totes Baby. An Berat. An die blonde Frau. Wut, Trauer und Enttäuschung vermischen sich. Wieso will ich etwas böses tun? Etwas dummes? Etwas, das ich vielleicht für den Rest meines Lebens bereuen werde?
„Die Shorts sind ein bisschen groß, hab leider nichts anderes“, sagt der Fremde, der mittlerweile auch frische Sachen trägt.
Ich zucke mit den Schultern, nähere mich dem Bett und bleibe vor ihm stehen. Er legt den Kopf schief und sieht mich komisch an. Ist er blind? Will er mich nicht? Bin ich ihm zu hässlich? Zu dick? Ich hab doch nur ein paar Schwangerschaftspfunde übrig.
Der Gedanke an meine Schwangerschaft reißt etwas in mir auseinander. Als hätte mir jemand mit einer Axt den Brustkorb geteilt und jegliche Organe aus mir herausgerissen. Mein ganzer Körper spannt sich an, ich kriege kaum Luft. Ich ertrinke und verbrenne gleichzeitig. Es tut schrecklich weh.„Alles okay?“, fragt er besorgt.
Ich schaffe es gerade noch so mich neben ihn auf das Bett fallen zu lassen, bevor die Tränen aus mir herausbrechen. Heftig schluchze ich vor mich hin. Von null auf 100. Knopfdruckartig. Ich bin dumm. Ein jämmerliches, dummes Ding!
„Rede mit mir. Lass alles raus, du wirst sehen, es wird dir besser gehen“, sagt der Mann.
„Ja?“, frage ich schniefend.Er nickt mir zu. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, nur um Platz für neue zu machen, ringe nach Atem und schaue in diese dunklen Augen, die mich ansehen, als würden sich mich verstehen. Aber das kann er doch gar nicht, oder?
„Mach, ich bin da. Und dann bin ich weg. Wir kennen uns nicht, wir sehen uns nie wieder.“
„Aber du .. du wohnst in München“, sage ich leise.
„Nicht mehr lange, ich ziehe weg.“Das Angebot klingt verlockend, ich ziehe es ernsthaft in Betracht, mich diesem Fremden zu öffnen. Meine Frust und meine Wut rauszulassen, mich über mein Leben zu beschweren, ohne mir Sorgen darüber machen zu müssen, was er von mir denkt oder wem er davon erzählen könnte.
„Ich kenne nicht einmal deinen Namen“, sagt er und lächelt mir aufmunternd zu.
Stimmt. Und das würde so bleiben. Das ist es, der Startschuss. Ich lehne mich zurück, spüre die weiche Bettdecke unter meinem Rücken. Meine Beine berühren noch immer den Boden, und das ist gut so. Das gibt mir Mut. Dann fange ich an.
„Meine Mutter ist abgehauen, als ich 1 Jahr alt war“, fange ich an. „Sie ist mit einen anderen durchgebrannt und hat mich zurück gelassen ...“
Und rede weiter und weiter und weiter. Kann gar nicht mehr aufhören. Ich erzähle von meiner schrecklichen Stiefmutter, von meinen besoffenen Vater, von meiner scheußlichen Kindheit.
Es geht mir alles so leicht über die Lippen, vielleicht auch deshalb, weil ich die ganze Zeit auf die weiße Decke starre. Ich merke nicht einmal, wie der Fremde sich neben mich legt, den Blick ebenfalls nach oben gerichtet.Schule, Berat, Hochzeit, Schwiegermutter, Schwager. Nichts lasse ich aus. Als ich bei meinem Baby angelangt bin, fange ich an zu weinen. Tränen laufen mir unaufhörlich die Schläfen herab.
„Was ist mit deinem Mann?“, will er wissen.
„Wir haben uns getrennt. Er hat schon eine Neue. Speedy Gonzales, was?“Ich lache auf, aber er lacht nicht mit.
„Liebst du ihn?“
„Das habe ich. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher.“Ich vermeide es weiterhin zur Seite zu sehen. Die weiße Decke ist wie ein Schutzschild für mich.
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Seelensplitter
General FictionVerlust. Ein starkes Wort. Es gibt so viele verschiedene Arten davon, aber keine schmerzt so sehr, wie der Verlust des eigenes Kindes - ob ungeboren oder nicht. Die Seele zerbricht und die Splitter bringen die Wunde immer wieder von Neuem zu bluten...