„Dein Vater verlangte, dass ich ihm für seine männlichen Bedürfnisse zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stand.
Er schlug mich, weil ich mich angeblich nicht genug um seine kranken Eltern kümmerte. Er schlug mich, wenn ihm das Haus nicht sauber genug war. Er schlug mich auch, wenn ich vor unendlicher Müdigkeit tagsüber kurz die Augen schloss, wenn ihm sein Hemd nicht glatt genug war, oder ich es morgens nicht rechtzeitig schaffte, ihm den Kaffee auf den Tisch zu stellen.
Du warst mein Lichtblick in dieser Zeit, Egzona. Dein Lächeln füllte meine Seele mit Lebenswillen.
Als dein Vater sechs Monate nach deiner Geburt verkündete, wir würden nach Deutschland ziehen, klammerte ich mich an einer neuen Hoffnung. Ein anderes Land, andere Sitten und Gesetze. Vielleicht, so dachte ich, würde er sich ändern.
Er änderte sich, Egzona. Im negativen Sinne, und das, obwohl ich dachte, dass das gar nicht mehr möglich wäre. Ich traute mich mich manchmal tagelang nicht vor die Tür, weil mein Gesicht voller blauer Flecken war.
Meinen ersten Fluchtversuch unternahm ich kurz vor deinem ersten Geburtstag. Ich hatte im Laufe der Wochen immer wieder Geld aus dem Geldbeutel deines Vaters gestohlen. Jedes Mal nur eine oder zwei Mark, damit er bloß nichts bemerkte. Ich kratzte also das wenige Geld zusammen und suchte nach einen Bus, der uns zu meiner Tante bringen sollte. Da wir mit deinem Vater dort schon öfter zu Besuch waren, kannte ich den Namen der Stadt und wusste, wo ich einsteigen musste. Ich war voller Energie und Hoffnung, dachte zwischenzeitlich sogar, wir hätten es wirklich geschafft.
Noch immer kann ich nicht glauben, dass keiner Verständnis für mich hatte. Dass keiner den Mut hatte mir zu helfen. Meine Tante schämte sich für mich. Sie sagte, ich solle mich nicht so anstellen. Dass man ab und zu Schläge vom Mann bekam, gehörte doch dazu. Ich saß weinend auf ihrer Couch, wiegte dich in meinen Armen und wartete darauf, dass dein Vater uns abholte. Was er zu Hause mit mir gemacht hat, willst du gar nicht wissen.
Ein paar Wochen später versuchte ich es erneut. Diesmal führte mein Weg mich zur Polizei. Leider sprach ich kaum ein Wort Deutsch, da ich die ganzen Monate quasi eingesperrt gewesen war. Zwei Stunden lang versuchte ich verzweifelt einem Polizisten meine Lage zu erklären. Und was tat dieser? Er fuhr mich wieder nach Hause, wo dein Vater bereits auf uns wartete.
Er schlug mich nicht. Im Gegenteil, er blieb ganz ruhig und gelassen. Zwei Tage später rief meine Mutter aus dem Kosovo an und erzählte mir, dass mein Bruder, der gerade mal 16 Jahre alt war, fast tot geschlagen wurde. Dein Vater saß während dem Gespräch neben mir. Als ich auflegte, sagte er nur, dass ich aufpassen solle, was ich mache, sonst würde ich das nächste Mal auf der Beerdigung meines Bruders weinen. Diesen Abend musste ich erst einmal verdauen.
Dein Vater war so besessen von Geld und dem Traum eines eigenes Hauses, dass er mich abends, wenn er von der Arbeit kam, auch arbeiten schickte. Früher wollte ich Ärztin werden und nun schrubbte ich Krankenhausflure. Welch seltsamen Verlauf das Leben manchmal nimmt.
Doch der Job hatte auch etwas Gutes. Nach und nach lernte ich Deutsch. Ich freundete mich mit einer Türkin an, die in einer ähnlichen Situation steckte. Durch sie erfuhr ich, was ein Frauenhaus war. Es dauerte einige Monate, bis ich den Mut fand, um eine erneute Flucht zu wagen. Eines Mittags verschwand ich schließlich ein für alle Mal. Mit dir, mein Liebling! Ich habe niemals auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken gespielt dich zurück zu lassen, niemals! Ich bekam Hilfe und stand endlich nicht mehr ganz allein da. Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat, Egzona. Ich weiß nicht, mit welchen Worten er dich manipuliert hat. Aber die Wahrheit ist, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen anderen Mann gab.
DU LIEST GERADE
Seelensplitter
General FictionVerlust. Ein starkes Wort. Es gibt so viele verschiedene Arten davon, aber keine schmerzt so sehr, wie der Verlust des eigenes Kindes - ob ungeboren oder nicht. Die Seele zerbricht und die Splitter bringen die Wunde immer wieder von Neuem zu bluten...