Kapitel 32 :
Der folgende morgen war sehr qualvoll. Ich musste mich für die Arbeit fertig machen und so tun, als wäre nichts passiert, während Berat seelenruhig seinen Rausch ausschlief. Ganz bewusst vermied es ins Wohnzimmer zu gehen. Ich hatte Angst, dass er wach werden würde, denn ich war nicht bereit ihm Gegenüber zu treten – noch nicht.
Auf der Arbeit ging der Schrecken weiter. Das hergerichtete Gebäude war nicht nur für die Kinder gewöhnungsbedürftig. Es herrschte eine ungewohnte Spannung und der komische Geruch, der in der Luft hing, machte die Situation auch nicht gerade besser.
Während die Kleinen durch einen einzigen großen Raum umherirrten, hatten wir Erzieherinnen alle Hände voll zu tun. Es gab zu wenig Puppen, zu wenig Autos, zu wenig Bauklötze und viel zu viel Gemecker. Immer wieder schnappte ich die verzweifelten Blicke meiner Kolleginnen auf.
„Das ist doch ein Witz, Egi", meinte Iman.
„Ich weiß auch nicht, was das werden soll. Die Kinder fühlen sich nicht wohl."
„Ich hoffe, dass die Renovierungsarbeiten schnellstmöglich beendet werden. Ist ja nicht auszuhalten hier. Wann wird dieser Verrückte vor Gericht gebracht?"
„Weiß ich nicht genau, das wird eine Weile dauern. Ich werde wohl erneut aussagen müssen, und ehrlich gesagt, hab ich keine besonders große Lust, diesen Psychopathen gegenüber zu treten."
„Er kann dir sowieso nichts mehr tun", sagte sie.
Ich schlang meine Arme um meinen Körper und nickte. Natürlich konnte er mir nichts mehr tun. Trotzdem war mir kalt. Sowohl innerlich, als auch äußerlich. Ich hatte das Gefühl, als würde sich der nächste Tornado über mir zusammenbrauen ...
Der Tag verging quälend langsam. Die Unruhe in meinem Inneren schien nicht abklingen zu wollen. Im Gegenteil, sie wurde immer stärker. Mein Gedanken kreisten unaufhörlich um meine Probleme.
Ein Teil von mir, wollte noch immer nicht wahr haben, wie ich nun da stand – allein. Ohne Baby. Ohne Berat. Und ohne Vater. Denn ich ahnte, dass auf die Nachricht meiner Trennung keine tröstende Umarmung folgen würde.
Fisnik zupfte an meinen Pulli, ich war froh über seine Ablenkung.
„Egi?", sagte er.
„Ja?"
„Wieso ist Lorik heute nicht gekommen?"
Mein Körper versteifte sich. Auf diese Art von Ablenkung hätte ich wahrlich verzichten können.
„Lorik geht jetzt in ein anderes Kindergarten."
„Kommt er nicht mehr zum Spielen?"
„Nein, Fisnik. Er wird nicht mehr herkommen."
„Warum, Egi?"
„Weil ... weil seine Eltern woanders hingezogen sind."
„Aber warum?"
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Seelensplitter
General FictionVerlust. Ein starkes Wort. Es gibt so viele verschiedene Arten davon, aber keine schmerzt so sehr, wie der Verlust des eigenes Kindes - ob ungeboren oder nicht. Die Seele zerbricht und die Splitter bringen die Wunde immer wieder von Neuem zu bluten...