„Es ging alles so schnell, Egi. Ich habe ihn nicht gesehen und stand so unter Schock, dass ich aufs Gaspedal gedrückt hab und weggefahren bin. Es war ..."
Ich hörte nicht mehr hin. Mein Gehirn sträubte sich dagegen. Ich wollte das nicht hören, ich wollte das nicht wahr haben. Hitze stieg mir ins Gesicht, Kälte kroch meinen Körper hinauf. In mir fand ein Wechselbad der Gefühle statt und ich wusste nicht, wie ich damit klar kommen sollte.
Er hatte ihn angefahren und sich aus dem Staub gemacht. Er hatte das Leben eines kleines Kindes auf dem Gewissen. Das Leben von Loriks Zwillingsbruder.
„Egi?"
Berat war aufgestanden und hatte eine Hand auf meine Schulter gelegt. Ich wich zurück.
„Mein Gewissen bringt mich um", flüsterte Berat.
Zurecht, wollte ich schreien. Aber ich konnte nicht, denn meine Lippen waren wie zugenäht. Wie konnte er all die Monate einfach so weitermachen. Wie konnte er Raif und Lynn in die Augen schauen und gleichzeitig wissen, dass er für den Tod ihres Kindes verantwortlich war.
„Egzona, ich musste dir das sagen. Ich konnte dieses Geheimnis nicht länger für mich behalten. Du bist meine Frau, du bist die Einzige, der ich vertrauen kann."
Stille. Es kam mir so vor, als würde ich das Tropfen des Wasserhahns aus der Küche hören. Tack. Tack. Tack. Ich hatte das Gefühl, dass der Raum unter Strom stand, so viel Spannung herrschte gerade. Die Luft schien zu vibrieren. Das Gemälde an der Wand, das ich auf dem Flohmarkt erstanden hatte, wirkte plötzlich farblos und angsteinflößend. Und da waren noch die Wände, die sich unaufhörlich auf mich zu zu bewegen schienen.
Berat griff nach meiner Hand. Mein Blick fixierte seinen Ehering, in dem mein Name eingraviert war. Und dann fiel alles in sich zusammen, denn zum ersten Mal, seit wir dieses Gespräch führten, sah ich Berat richtig in die Augen.
Was ich dort sah, ließ mein Herz zusammen ziehen. Die Schmerzen, die Qualen, die Reue. Er litt. Es war überdeutlich. Es muss ein schreckliches Gefühl gewesen sein, die ganze Zeit über ein solch schlimmes Geheimnis zu hüten. Berat führte meine Hand an seine Lippen und schluchzte leise vor sich hin. Seine Tränen liefen meine Haut entlang, während er mich erneut ansah.
„Sag was", flehte er.
Doch ich sagte nichts, nahm ihn stattdessen einfach in den Arm. So schlimm, schrecklich und tragisch das Ganze auch war, und so sehr ich mir auch wünschte, er hätte mir nie davon erzählt, ich wusste, dass ich ihn nicht verpfeifen würde. Ich konnte das nicht tun! Das würde ich niemals übers Herz bringen! Er war derjenige, der mich damals gerettet hat. Er war der Erste, der zu mir durchgedrungen war. Meine Loyalität ihm gegenüber war, trotz unserer aktuell nicht berauschenden Ehesituation, grenzenlos. Und das wusste er.
Mehrere Tage vergingen. Wir verloren über den Unfall kein Wort mehr. Wir sprachen allgemein sehr wenig miteinander, was auch daran lag, dass Berat oft bis spätabends in der Uni oder in der Bibliothek war. Es war fast so, als gingen wir uns gegenseitig aus dem Weg und ich glaube, dass das im Moment das einzig Richtige war.
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Seelensplitter
General FictionVerlust. Ein starkes Wort. Es gibt so viele verschiedene Arten davon, aber keine schmerzt so sehr, wie der Verlust des eigenes Kindes - ob ungeboren oder nicht. Die Seele zerbricht und die Splitter bringen die Wunde immer wieder von Neuem zu bluten...