Feigling

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Bevor ich überhaupt die Augen öffnen konnte, war ich geistig wieder bei dem Mann von letzter Nacht. Er ließ mich einfach nicht los und ich fragte mich, wer er überhaupt war und ob er überhaupt das Recht hatte, sich hier aufzuhalten. Nachdem ich aus dem Badezimmer zurück ins Zimmer kam, wollte ich eigentlich Killian darauf ansprechen, aber er schlief schon und das so süß, dass ich ihn nicht wecken wollte.

An diesem Morgen war er nicht mehr da. Ich war mal wieder alleine und die Aura seiner Sicherheit, hatte er mit sich genommen. Müde raffte ich mich auf und suchte in den Tüten nach passender Kleidung, um mich dann vorsichtig ins Bad zu begeben, bedacht darauf, nicht wieder einem knurrenden Fremden zu begegnen.

Es ärgerte mich, dass die Frage um diesen Mann meinen Abend mit Killian überschattete. Ich wollte lieber wieder die Wärme spüren und das Kribbeln erneut erleben. Einfach alles nochmal Schritt für Schritt in meinen Gedanken durchgehen. Doch immer wieder kam das Knurren des Mannes in meinen Kopf und übertönte alles Gute.

Wütend darüber schmiss ich meine Zahnbürste ins Waschbecken und stampfte mit meinem schwarzen Jogginganzug die Treppen herunter ins Erdgeschoss, wo ich genervt feststellen musste, dass wie immer keiner außer mir in diesem großen Haus zu sein schien.

Während ich mich darüber ärgerte, lief ich rüber zur Küche, um mir ein Glas Milch einzuschütten und über die letzten Tage nachzudenken. Mir wurde bewusst, dass ich mich verändert hatte. Die Zeit, die ich hier verbracht hatte, war zwar kurz, aber dafür sehr intensiv. Ich wurde mit Verlangen konfrontiert, musste einem Alpha die Stirn bieten und lernte, meine Schüchternheit zu überwinden in Momenten, in denen es wirklich nötig war. Das alles ließ mich stärker werden, vor allem er ließ mich stärker werden. Meine Gefühle zu ihm konnte ich nicht mehr verleugnen, denn er war anders, als man es von Alphas kannte und nahm sogar Rücksicht auf mich.

Ein plötzliches Knallen der Haustür riss mich erschrocken aus meinen Gedanken und vor lauter Schreck, fiel mir dazu noch mein Glas aus der Hand.

"Was gibt's neues?", fragte Resul und zeigte dabei sein schönstes Lächeln, bis er die Scherben vor mir sah und seine Augen groß wurden. Ehe ich die Chance dazu hatte, es sauber zu machen, schob er mich behutsam beiseite und schüttelte verneinend den Kopf.
"Ich habe dich erschrocken, also mache ich es auch sauber." Er zwinkerte mir zu und schnappte sich einen Handfeger inklusive Kehrblech.
"Danke! Du hast mich aus meinen Gedanken gerissen", gab ich peinlich berührt zu.

"Was für Gedanken lassen dich denn so zusammenzucken?" Er ließ mich nicht aus den Augen, während er die Scherben in den Müll beförderte und alles wieder ordentlich beiseite stellte.

"Ein Mann war letzte Nacht oben im Flur", erzählte ich ihm, doch er fing nur doof an zu grinsen.
"Schwebte er zufällig und hatte eine leicht durchsichtige weiße Hülle?"
"Das ist nicht witzig!  Ich sehe keine Gespenster!", maulte ich ihn leicht gereizt an.
"Er war groß und hatte einen schwarzen Anzug an."

"Caleb", hauchte er mir dann mit kaltem Blick entgegen.
Den Namen hatte ich schon einmal gehört. Ich versuchte mich daran zu erinnern, doch mein Kopf war voll mit zu vielen neuen Namen und Eindrücken, so dass mir die Erinnerung an diesen Namen glatt entfallen war.

"Du weißt nicht mehr, wer das ist, oder?", fragte mich der Lockenkopf und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
"Erwischt Sherlock und jetzt hilf mir bitte auf die Sprünge."

Er holte tief Luft und ich wartete neugierig auf seine Antwort.
"Killian und Damiano sind doch gestern Morgen mit Brando weggefahren. Ich habe dir doch erzählt, wohin. Sie sind zu Caleb, unserem Ober Alpha und Killians Vater. Eigentlich wohnt er zurückgezogen am Meer in einem kleinen Haus, aber Damiano hat mir erzählt, dass er unbedingt herkommen wollte, um dich kennen zu lernen."

Ich runzelte irritiert die Stirn, denn es machte überhaupt keinen Sinn, dass der Vater meines Mates mich anknurren würde. Weder ihm, noch seinem Sohn gegenüber, hatte ich mich respektlos verhalten. Na gut, gegenüber Killian vielleicht ein bisschen, aber Caleb konnte ja wohl kaum von dem Mittelfinger wissen. Ohne mir seine Abneigung gegenüber mir erklären zu können, verdrängte ich erstmal die Gedanken an ihn und dann kam mir wieder Brando in den Sinn.

"Und wo ist Brando jetzt?", fragte ich Resul, der sich in der Zeit meiner geistigen Abwesenheit einen Apfel genommen hatte.
Sein Blick ging traurig zu Boden und ich hörte ein leises Wimmern, was mich besorgt auf ihn zulaufen ließ.

"Resul?" Vorsichtig legte ich ihm meine Hand tröstend auf die Schulter und schaute ihn mitfühlend an.
"Er wurde verstoßen", winselte er und schaute mir traurig entgegen.
"Nur wegen mir?"
"Nur? Alicia, du bist Killians Mate. Er hat dich grob angepackt. Klar vermisse ich ihn, aber ich kann Killians Entscheidung vollkommen nachvollziehen."

Ich ging ein paar Schritte zurück, um mich an den Kühlschrank anzulehnen. Das kam mir nicht richtig vor und ich bekam ein richtig schlechtes Gewissen, denn er konnte ja nicht wissen, dass mein Arm vorher schon schmerzte.

"Es hätte doch gereicht, ihm zu sagen, dass er es nicht wieder machen soll. Ich hab mir ja auch einfach sein Handy genommen und darüber hat keiner gemeckert. Ich hatte also Mitschuld an der Situation."

"Du bist echt zu gut für diese Welt, Alicia. Meinst du, in Killians Augen hattest du Mitschuld? Er hätte ihm auf der Stelle die Kehle herausreißen können. Aber er muss für solche Entscheidungen den Rat seines Vaters einholen", erklärte mir Resul und versuchte damit, mein Gewissen zu beruhigen.

Ich empfand das Alles als völlig übertrieben. War sein Beschützerinstinkt so stark ausgeprägt, dass er einen Freund verstoßen würde, nur weil er mich am Arm gepackt hatte? Das konnte ich einfach nicht glauben. Kopfschüttelnd ging ich herüber zum Fenster und stellte erstaunt fest, dass von der Sonne gestern nichts mehr zu sehen war. Es schüttete aus Strömen, während der Wind die Bäume schwanken ließ und der Himmel eine dunkle Farbe annahm.

"Lust, spazieren zu gehen?" Resul trat an meine Seite und schaute mich herausfordernd an.
"Wenn du voraus gehst." Ich zog provozierend eine Augenbraue hoch, woraufhin er wieder nach draußen schaute.

"Ist da jemand zu feige?", fragte ich ihn belustigt, denn er sah plötzlich nicht mehr so aus, als wollte er gerne in dieses Unwetter hinaus.
"Ich und feige? Da muss ich dich enttäuschen. Wer zuerst am Waldrand ist, hat gewonnen."

Er rannte los mit dem Bewusstsein, dass ich mich hier gar nicht auskannte und ihm sowieso nur folgen konnte, was ziemlich link von ihm war, aber ich ließ mich trotzdem darauf ein.

Kaum aus der Haustür heraus, prasselte der starke Regen auf mich nieder, während der heftige Wind mir ins Gesicht wehte. Resul war nur ein kleines Stück vor mir, was mich dazu anspornte, mein Tempo noch etwas zu erhöhen. Entweder machte er extra langsam für mich oder er war ein ziemlich langsamer Werwolf, aber ich glaubte an Ersteres.

Als er plötzlich stehen blieb und sich schüttelte, nahm ich zum ersten Mal meine Umgebung wahr und erkannte, dass wir am Waldrand angekommen waren, wo der himmlische Geruch des Waldes mir ein wunderschönes Gefühl von Heimat gab.


The Alphas Mate - Unter dem Schutz der Rosen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt