Kapitel 6

223 20 14
                                    

Die Tage im Palast vergingen, ohne dass sich die Stimmung zwischen mir und meinem Vater verbessert hatte. Wir sprachen nur das Nötigste und auch meine Mutter Frigga unternahm keinen weiteren Versuch, mit mir über meine Herkunft zu sprechen, nachdem ich ihr bereits beim ersten Mal sehr deutlich gezeigt hatte, dass dieses Thema unerwünscht war, und ich mich von ihr abgewendet hatte. So sehr ich meine Mutter in meinem Innersten auch liebte, ich konnte ihr noch nicht verzeihen, dass sie mir meine wahre Herkunft jahrelang vorenthalten hatte.

Gerade von ihr fühlte ich mich verraten, denn ihr hatte ich wirklich vertraut. Von Odin oder Thor war ich nie wirklich überrascht gewesen, wobei ich mir nicht sicher war, dass Thor davon gewusst haben sollte. Aber, dass die Frau, die vorgab meine Mutter zu sein und mich unendlich zu lieben, mich so hintergangen hatte, hatte ein Loch in mein Inneres gerissen, das nicht verheilen wollte.

Jeden Tag hatte ich bisher in meinen Gemächern oder in der Bibliothe verbracht, manchmal wanderte ich nachts stundenlang durch das Schloss und genoss die Ruhe und die Kühle der Sommerluft, die durch die Gänge strich.

Bis auf die obligatorischen Mahlzeiten, die für uns alle Pflicht waren, hatte ich kaum Kontakt zu meiner Familie, ich schottete mich immer mehr hab. Dies war auch gut so, denn jedes Mal, wenn ich einen von ihnen zu Gesicht bekam, wühlten sich die schmerzhaften Erinnerungen wieder hervor.

Das Geflüster und Gerede wurde immer lauter und häufiger, je länger ich die Tage allein in meinem Gemach verbrachte, und die Bediensteten warfen mir immer schamloser ihre neugierigen Blicke zu.

Eines Abends lag ich auf meinem Bett und starrte an die grüngestrichene Decke des Raumes, nachdem ich wieder einmal den ganzen Tag allein in einer einsamen Ecke der Bibliothek mit einem meiner Lieblingsbücher verbracht hatte. Es war ein Buch über die Märchen von der Welt Erde. Merkwürdig, was für Geschichten den Menschenkindern erzählt wurden, um ihnen etwas über das Leben beizubringen.

Meine Gedanken schweiften ab zu dem Märchen, das ich zuletzt gelesen hatte. Ein Mädchen, das als kleines Kind von einer Hexe entführt wird und fortan bei ihr aufwächst in dem Glauben, sie wäre seine Mutter. Seltsamerweise erinnerte die Geschichte dieses Mädchens, ihr Name war Rapunzel - benannt nach einer Art Gemüse?!? - auf irgendeine Art und Weise an meine eigene.

Nur, dass es für mich nicht so ein Happy End geben würde, wie für sie. Nach Jahren der Trennung kehrt sie zu ihren liebenden Eltern, dem König und der Königin irgendeines Erdenlandes, zurück und lebt glücklich für immer.

Mein Leben kam mir vor wie irgendeine verdrehte Version dieses Märchens. Ich war aus Mitleid aufgenommen wurden von der Königsfamilie, die mich aufgezogen hatte und mich in dem Glauben gelassen hatte, ihr leibliches Kind zu sein. Meine wahren Eltern waren vermutlich tot. Da war niemand mehr, zu dem ich in Frieden hätte zurückkehren können. Ich war in keinem Turm eingesperrt, sondern gefangen in diesem Palast mit seinen Regeln.

Frustriert über die Ausweglosigkeit meiner Situation erhob ich mich ächzend vom Bett. Zu mir würde kein Prinz und keine Prinzessin kommen, um mich aus meinem Turm zu befreien.

Man musste sich um sich selbst kümmern, wenn man etwas ändern wollte. Und man musste vorsichtig sein, wem man Vertrauen schenkte, das hatte mir mein Leben auf eine schmerzhafte Art und Weise sehr deutlich klar gemacht.

All diese Märchen waren doch nur Tagträumereien, um sich aus dem eigenen, alltäglich elenden Leben weg zu phantasieren, eine einzige Lüge.

Ich trat ans Fenster und ließ meine Blick schweifen über das trügerisch friedliche Asgard, das in Gold und Prunk still vor mir lag. Das ganze Königreich sah aus als würde es schlafen.

Ein unbeschreiblicher Drang überkam mich, ein Drang, der mich nach draußen an die frische Luft zog. Mit einer schnellen Handbewegung öffnete ich die Tür zum Balkon. Eine angenehme Kühle schlug mir ins Gesicht und kühlte meine erhitzten Wangen. Barfuß, wie ich war, fing ich schnell an, ein wenig zu frösteln. Insgesamt trug ich nur ein Hemd aus Leinen und eine leichte Hose.

Einem Impuls folgend zog ich mir schnell meine Lederstiefel, die immer noch schlammbeschmiert waren, über die nackten Füße und warf mir einen Umhang über die Schultern. Anschließend trat ich hinaus auf den Balkon.

Loki Life - Freedom is life's great lie. (Loki FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt