11 - Gegenüber vom Tod

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„Hörst du mir überhaupt noch zu, Kylan?" Während Weya das fragt, schaut sie mich vorwurfsvoll aus ihren himmelblauen Kulleraugen an und verschränkt die Arme vor der Brust.

Seit geschlagenen zehn Minuten erzählt mir meine Schwester von ihren verrückten Träumen, doch ich schaffe es einfach nicht, mich auf ihre Worte zu konzentrieren.

Meine Gedanken sind woanders.

Bei Shay.

Bei Snake.

Und bei meiner Entscheidung.

„Man, Kylan", meckert Weya unzufrieden. „Wenn du mir nicht zuhörst, kann ich mich auch direkt mit der Wand unterhalten. Sie wäre bestimmt ein besserer Zuhörer als du!"

„Tut mir leid", beeile ich mich zu sagen und streichele dem Engel dabei tröstend über den Kopf

Ich muss jetzt für Weya da sein, schließlich steht sie kurz vor ihrer nächsten Chemotherapie. Zwar ist diese Therapie nicht die Erste, aber dennoch habe ich große Angst um meine Schwester.

Was, wenn sie den Krebs nicht besiegt? Wird sie dann sterben?

Bei diesen grausamen Fragen breitet sich eine eisige Gänsehaut auf meinen Armen aus. Der Tod meiner kleinen Prinzessin wäre das Schlimmste, was passieren könnte.

Warum muss dieser beschissene Krebs auch immer wieder zurückkehren? Kann er sich kein anderes Opfer suchen?

„Liest du mir dann wenigstens etwas vor, wenn du mir schon nicht zuhörst?" Der vorwurfsvolle Unterton, der in Weyas Stimme mitklingt, ist nicht zu überhören.

Sie ist enttäuscht von mir – das steht außer Frage.

„Natürlich, Prinzessin", sage ich deshalb schnell, um Schadensbegrenzung zu betreiben, und kuschele mich zu ihr in das Krankenbett. Wie von selbst bettet meine Schwester ihren Kopf auf meiner Brust und schlingt einen Arm um meinen Bauch.

„Ich habe dich lieb, Kylan."

Es sind bloß fünf harmlose Wörter, doch sie reichen aus, um mir Tränen in die Augen zu treiben.

Weya ist mein Ein und Alles. Ich würde es nicht überleben, sie zu verlieren.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend streiche ich mir die Glasperlen von den Wangen und zwinge mich dann dazu, ihre Worte mit einem „Ich habe dich noch viel mehr lieb, Prinzessin", zu erwidern.

Warum fühlt sich dieser Moment gerade wie ein Abschied an?

Weya hat es schon öfter geschafft, den Krebs zu besiegen. Sie wird es auch dieses Mal wieder schaffen!

Begleitet von einem traurigen Lächeln möchte ich das Märchenbuch aufschlagen, als es plötzlich an der Tür klopft. Sofort setzt sich die Blondine aufrecht hin, ehe sie ein neugieriges „Herein?" von sich gibt.

Keine zwei Sekunden später wird die Tür geöffnet, sodass ein weißer Teddybär, der eine pinke Schleife um den Hals gebunden hat, zum Vorschein kommt.

Obwohl das Stofftier so riesig ist, dass es den Menschen dahinter komplett verdeckt, weiß ich ganz genau, wer im Türrahmen steht.

Shay.

Automatisch dreht sich mein Magen um und mir wird übel.

Wie soll ich dem wunderschönen Mädchen gleich in die Augen schauen können, wenn ich es nicht einmal ertrage, mein eigenes Spiegelbild anzusehen?

Ständig schwirren Erinnerungsfetzen der vergangenen Nacht durch meinen Kopf.

Ich musste mich entscheiden.

Der Dieb der HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt