19 - Der Dieb der Herzen

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Ich fühle mich einsam und leer, als ich mir das warme Blut, das aus dem Kopf meiner Mutter gespritzt ist, aus dem Gesicht wische.

Sie hat sich vor meinen Augen umgebracht und ich habe es zugelassen.

Hoffentlich sind sie und Weya jetzt an einem schöneren Ort, an denen es ihnen gutgeht. Nicht mehr lange, dann werde ich ebenfalls bei ihnen sein, denn ohne meine Familie kann und will ich nicht weiterleben.

Ich habe niemanden mehr.

Ich bin allein.

Und das ertrage ich nicht.

Zwar bin ich auf dem Papier schon erwachsen, doch im Herzen bin ich immer noch ein Kind, das sich nach der Nähe seiner Familie sehnt.

Nur langsam platzt meine Blase, die mich wie ein Schutzschild umgeben hat, und weicht der grausamen Realität. Menschen weinen, Menschen schreien und Menschen laufen wild durcheinander.

Obwohl sie meine Mutter nicht gekannt haben, scheint der Schock, dass sie sich umgebracht hat, tief zu sitzen.

Vielleicht mag es egoistisch klingen, aber in diesem Moment wünsche ich mir, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf mich richten. Mum ist tot, doch ich lebe noch.

Noch...

Wenn mir niemand seine starke Schulter zum Ausheulen anbietet, steige ich gleich ebenfalls in den Himmel hinauf - oder schlimmstenfalls in die Hölle hinab.

Ein paar Minuten bleibe ich noch reglos stehen und starre auf die vielen Menschen, die sich in einem Kreis vor meiner leblosen Mutter versammelt haben, ehe ich mich auf wackeligen Beinen von dem Krankenhaus entferne.

Meine Sicht wird zwar von brennenden Tränen verschleiert und ich könnte jede Sekunde vor lauter Kraftlosigkeit in mir zusammenbrechen, doch irgendwie schaffe ich es schließlich, zu der alten Autobahnbrücke zu gelangen, die vor vielen Jahren Weyas Lieblingsplatz in der Stadt war.

Sie ist gerne hierhergekommen, um den Autofahrern zuzuwinken. Wann immer ihr jemand zurück gewunken hat, hat sich das schönste Lächeln auf ihren Lippen ausgebreitet, das ich je gesehen habe.

Auch vor vier Jahren, nachdem die erste Krebs-Diagnose kam, waren wir hier.

Zusammen.

Weya und ich.

Arm in Arm standen wir auf der Brücke. Trotz der vielen Tränen, die über unsere Wangen gelaufen sind, haben wir den Autofahrern zugewunken und so für eine kurze Zeit unseren Schmerz vergessen.

Es fühlt sich falsch an, jetzt ohne sie auf dieser Brücke zu stehen und den vorbeirauschenden Autos zuzusehen.

Alles fühlt sich in diesem Moment falsch an.

Mit zittrigen Händen stütze ich mich auf dem Geländer ab und schaue in die Tiefe hinab. Einen Sprung aus dieser Höhe zu überleben, ist unmöglich. Also ist dieser Ort perfekt für mich, um mich wieder mit meiner Schwester und meiner Mutter zu vereinen.

Vermissen wird mich sowieso niemand.

Ich atme ein letztes Mal tief ein und wieder aus, ehe ich langsam über das Geländer klettere. Anstatt dabei von Angst umhüllt zu werden, spüre ich bloß Freiheit und meinen inneren Frieden.

Es ist die richtige Entscheidung, zu meiner Familie zurückzukehren - da bin ich mir sicher.

Ich möchte gerade meine Arme von mir strecken und sie zu Flügeln ausbreiten, als plötzlich mein Name aus der Ferne ertönt.

„Kylan!"

Die Panik, die in der Mädchenstimme mitschwingt, lässt mir eine eisige Gänsehaut über das Rückgrat tanzen.

Der Dieb der HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt