Shay hatte Recht.
Schon in der Sekunde, in der wir das Ferienhaus ihres Vaters erreichen, spüre ich, wie all die Anspannung und all der Stress der vergangenen Tage von mir abfallen. Es tut gut, die gewohnte Umgebung zu verlassen und einfach mal die Gedanken abzuschalten.
Eine Auszeit ist genau das Richtige für mich.
Zwar hatte ich Anfang der Woche Zweifel, ob ich Weya und Mum ein ganzes Wochenende allein lassen kann, doch beide haben mich dazu ermutigt, gemeinsam mit Shay wegzufahren.
Meine Mutter hat mir sogar heute Morgen mit einem Zwinkern eine Packung Kondome in die Hand gedrückt und mir viel Spaß gewünscht.
Das war mit Abstand der unangenehmste Moment in meinem bisherigen Leben.
„Komm. Ich zeige dir das Haus", reißt mich Shay mit einem fröhlichen Lächeln aus meinen Gedanken.
Tatsächlich scheint ihr der Tod ihrer Großmutter relativ wenig auszumachen, denn sie hat bisher keine einzige Träne verdrückt und kein einziges Mal über sie gesprochen.
Hoffentlich ist dieses gleichgültige Verhalten nicht bloß eine Fassade.
Ich habe Angst, dass Shay in ein dunkles Loch fällt. Erst hat sie ihre Mutter verloren, dann wurde sie jahrelang von ihrem Vater bedroht und schließlich hat sie auch noch ihre eigene Großmutter an den Tod ausgeliefert.
Shay ist stark, doch auch sie ist ein Mensch, dessen Herz brechen kann.
„Kommst du, Kylan?"
Hastig nicke ich, ehe ich zu der Brünetten aufschließe und wir letztlich gemeinsam das Ferienhaus, das von hohen Tannen umgeben ist, betreten. Neben einer geräumigen Küche und einem modernen Wohnzimmer mit Kamin gibt es drei Bäder, einen Fitnessraum und fünf Schlafzimmer.
Und das soll lediglich ein Ferienhaus sein? Wohl kaum. Hier könnten locker zwei Familien leben.
„Such dir einfach ein Zimmer aus und komm dann in zehn Minuten in Badesachen runter, okay?" Ohne mir die Chance zu geben, etwas darauf zu erwidern, zwinkert mir Shay zu, bevor sie schnellen Schrittes ins Erdgeschoss verschwindet.
Ich hingegen suche mir sofort das Schlafzimmer aus, das eine riesige Fensterfront hat und den Blick auf eine Waldlichtung freigibt. Tatsächlich erkenne ich ein kleines Rehkitz, das die Ohren spitzt und kurz darauf zwischen den Bäumen verschwindet.
Es ist lange her, als ich das letzte Mal in der Natur war. Ich wünschte, ich könnte öfter herkommen.
Damit ich nicht noch mehr Zeit mit dem Staunen verschwende, mache ich mich hastig an meiner Reisetasche zu schaffen und ziehe mir eine türkisfarbene Badehose an.
Es grenzt an ein Wunder, dass mir dieses alte Ding überhaupt noch passt.
Wie abgesprochen wechsele ich meine Kleidung und treffe mich dann wieder mit Shay im Erdgeschoss.
Die Brünette wartet bereits in einem luftigen Sommerkleid auf mich und strahlt mich glücklich an, als sie mich erblickt. „Bereit, um Spaß zu haben, Kylan?", fragt sie mich grinsend und wackelt dabei anzüglich mit den Augenbrauen.
„Da du dabei bist, selbstverständlich", erwidere ich zwinkernd.
„Dann los!" Lachend schnappt sich die Braunäugige meine Hand, damit sie mich aus dem Haus führen und gleich darauf in den Wald lotsen kann.
Die frische Luft und der Klang der singenden Vögel sind wie Balsam für meine Seele. Automatisch entspanne ich mich und verdränge all die Grausamkeiten, die mir aktuell das Leben erschweren.
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Der Dieb der Herzen
ActionKylan Jones bricht seit mehreren Jahren in Häuser ein, um Wertgegenstände zu entwenden. Während ihn die Polizisten als „kriminellen Verbrecher" bezeichnen, ist er in Wahrheit bloß ein verzweifelter Bruder, der Geld für seine krebskranke Schwester au...