17 - Küsse aus Hoffnung und Schmerz

276 27 14
                                    

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich auf dem dreckigen Boden im FIGHT sitze und Tysons leblose Hand halte. Anfangs bin ich in einem Meer aus salzigen Tränen ertrunken, doch mittlerweile weint nur noch mein Herz Glasperlen aus Schuldgefühlen.

Tyson war ein guter Mensch. Er hat es nicht verdient, zu sterben - erst recht nicht unter solch grausamen Umständen.

„Es tut mir leid", wispere ich leise in die gespenstische Stille hinein.

Von den grölenden Menschen, die Tysons Tod wie einen Sieg im Fußball gefeiert haben, ist Gott sei Dank nichts mehr übrig. Auch Snake ist seit seiner kleinen Ansprache in der Umkleidekabine wie vom Erdboden verschluckt. Demnach bin ich die einzige Person, die in dem dunklen Boxstudio hockt und Tysons Hand hält.

Niemand hat sich darum gekümmert, dass eine Leiche auf dem Boden liegt. Wäre ich nicht an der Seite des Blauäugigen gewesen, wäre er vermutlich noch achtlos mit Füßen getreten worden.

Ich bin so sehr in meinem Schleier aus Trauer, Wut und Schuldgefühlen gefangen, dass ich erst ein paar Minuten später realisiere, dass ich nicht mehr allein bin. Ein Mädchen, dessen süßer Duft Herzflattern bei mir verursacht, sitzt neben mir und umschließt nun vorsichtig meine Hand mit ihrer eigenen.

„Was ist passiert, Kylan?"

Shays sanfte Stimme ist in diesem Moment wie Balsam für meine Seele. Es tut gut, sie in meiner Nähe zu wissen.

Aber auch wenn ich erleichtert darüber bin, dass mir die Brünette jetzt Halt geben kann, bringt ihre Anwesenheit meine Mauern zum Einstürzen. Erst ist es nur eine Träne, die sich ihren Weg an die Freiheit erkämpft, doch binnen weniger Sekunden strömen ganze Sturzbäche über meine Wangen.

Sofort schließt mich Shay in ihre Arme und streichelt mir beruhigend über den Rücken. „Alles wird gut, Kylan", murmelt sie leise, ehe sie einen federleichten Kuss auf meiner Stirn platziert.

Ich wünschte, ich könnte ihren Worten Glauben schenken, doch leider entsprechen sie nicht der Wahrheit.

Nichts kann mehr gut werden - absolut gar nichts!

Tyson ist tot.

Und ich bin derjenige, der ihn umgebracht hat.

Immer mehr Glasperlen rinnen über mein Gesicht und vereinen sich mit meinen verzweifelten Schluchzern. Mein Körper zittert und mir wird übel. Hinzu kommen diese schrecklichen Schuldgefühle, die wie Parasiten an mir nagen.

Am liebsten würde ich mit Tyson tauschen.

„Hey." Shay löst sich vorsichtig aus der Umarmung, um mein Kinn anzuheben. „Sieh mich an, Kylan."

„Nein", schüttele ich den Kopf. Wenn ich jetzt in ihre bernsteinfarbenen Augen schaue, verliere ich komplett den Verstand, denn dann sehe ich ein Monster.

Mich.

„Na schön", seufzt die Brünette zu meiner Überraschung geduldig. „Dann mach deine Augen aber wenigstens zu."

Direkt komme ich ihrer Aufforderung nach und lasse meine schweren Lider zuflattern. Ohne es verhindern zu können, spielen sich die vergangenen Stunden im Schnelldurchlauf vor meinem inneren Auge ab, bis ich die Stelle erreiche, an der Tyson meine Hand umfasst und sich das Messer ins Herz rammt.

„Ich gebe mein Leben für deins, Kylan", hallen seine Worte in Dauerschleife durch meinen Kopf.

Automatisch zieht sich bei dieser Erinnerung mein Herz schmerzhaft zusammen und weitere Schluchzer verlassen meine Lippen. Wie soll ich jemals damit leben können, einen Menschen getötet zu haben?

Der Dieb der HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt