Kapitel 9 - Kuss?

67 11 8
                                    

Bedaure nicht die Vergangenheit, Gav, sondern freue dich über das, was ist und auf das, was noch kommt."

Da hatte sie recht. Wenn sie bereit wäre, ihm zu verzeihen, wäre er bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. „Eliza?" „Ja?" „Ich... Weißt du, ich kann die Vergangenheit einfach nicht vergessen, denn dafür, dass ich dich mit unserem Kind alleine gelassen habe, schäme ich mich zu sehr. Ich möchte es wiedergutmachen. Auch, wenn ich es mir vielleicht nie verzeihen kann, kannst du es vielleicht. Ich weiß, das ist sehr, sehr viel verlangt. Aber dennoch frage ich dich: Eliza, kannst du mir all das Übel verzeihen, das dir zugestoßen ist, weil ich erst in dein Leben getreten bin und dich dann alleine zurückgelassen habe?" Er musste es wissen. Wenn sie ihm nicht verzeihen könnte, wäre das die verständlichste Reaktion überhaupt, die wahrscheinlich jeder zeigen würde. Wenn sie es könnte... Nun, so viel Glück hatte er vermutlich nicht.

Eliza trat einen Schritt zurück und sah ihn aus rotgeränderten Augen an. Gavriel versuchte, nicht zu enttäuscht zu sein, dass sie von ihm weggetreten war. Er wusste, was das bedeutete. Sie konnte ihm nicht verzeihen. Er wich ebenfalls einen Schritt zurück. Gavriel konnte nicht verhindern, dass seine Gesichtszüge mit jeder Sekunde, die verstrich, trauriger wurden. Kurz bevor er ihre Reichweite verließ, streckte Eliza die Flügel aus und verschränkte sie hinter seinem Rücken, um ihn am Weggehen zu hindern. Sie schob ihn mit Hilfe ihrer Schwingen wieder näher zu sich, bis er wieder fast vor ihr stand, und blickte ihn an. „Nein, kann ich nicht", stellte sie fest.

Es war, als hätte man ihm einen Tritt in die Magengrube verpasst. Ein Lächeln breitete sich um Elizas Mundwinkel aus. Warum lächelte sie, wenn ihm so elend zumute war? „Weil ich es schon längst getan habe. Ich habe dir schon längst verziehen, Gavriel. Oder, besser gesagt, gab es nie einen Grund, dir zu verzeihen, denn es gab ebenso wenig je einen Grund, böse oder wütend auf dich oder enttäuscht von dir zu sein. Du hast nie etwas getan, was das erfordert hätte. Nichts von dem, was passiert ist, war deine Schuld. Du hast keines der Übel in meinem Leben zu verschulden. Ganz im Gegenteil: Als ich mit dir zusammen war, habe ich die schönsten Monate meines Lebens verbracht, und du hast mir ein Kind geschenkt, welches fortan das Beste in meinem Leben war und mein Leben maßgeblich bereichert hat, auch, wenn es nicht immer einfach war. Und dafür danke ich dir."

Gavriel stand mit offenem Mund da und konnte nicht fassen, was Eliza gerade gesagt hatte. Zwischen ihnen war alles gut. Ein tonnenschwerer Stein fiel ihm vom Herzen. Er überwand den Abstand zwischen ihnen und zog Eliza an sich. Erst strich er ihr zärtlich die Haare aus der Stirn, dann lehnte er seine Stirn an ihre und schloss die Augen. „Oh, Eliza. Eliza", flüsterte er überglücklich und mit einem Herzen voller Dank. Er öffnete seine Lider wieder und zog sich etwas, nur ganz wenig, zurück. Gavriel wünschte sich, Eliza jetzt auf ihren wunderschönen Mund zu küssen und nie wieder loszulassen. Aber er wollte, dass sie den Anfang machte, damit sie sich nicht von ihm zu etwas genötigt fühlte, was sie vielleicht gar nicht wollte. Gavriel entschied sich für etwas anderes, nicht ganz so Offensives. Er legte seine großen Hände an ihre Schläfen, schloss seine Augen und drückte Eliza mit aller Liebe, die er zu bieten hatte, einen zarten Kuss auf die Stirn.

Er verharrte einen Moment in dieser Position. Der wunderschöne Augenblick schien sich ins Unendliche auszudehnen, denn keiner von ihnen tat etwas, um ihn zu beenden. Eliza fühlte noch prickelnd den Nachhall des sanften Druckes von Gavriels Lippen auf ihrer Stirn, als er sich schließlich doch zurückzog. Er musterte sie in all ihrer Schönheit und in seinen Augen stand der gleiche, atemlose Ausdruck wie in ihren. Eliza legte ihre Hände um Gavriels Gesicht und strich über seine Wange. Vor lauter Armen sahen sie einander kaum mehr. Deswegen zog Gavriel seine zurück und rückte näher an Eliza. Vielleicht würde er jetzt doch den Anfang machen, denn Eliza schien bereit. Eliza stellte sich auf die Zehenspitzen und näherte ihren Mund seinem an. Sie öffnete ihre Lippen. Das urplötzliche Pochen an der Tür stoppte ihren Mund eine Sekunde, bevor er sich auf Gavriels legen konnte.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt