Am Abend nach dem Aufbruch von Eliza und Gavriel lief Aminara zielstrebig durch die Gassen des Armenviertels. Sie hatte den Blick fest auf den Boden geheftet, um nicht all das Elend, das hier vorherrschte, sehen zu müssen. Es war feige, das wusste sie, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, die abgemagerten Straßenkinder mit ihren leeren Blicken oder die Betrunkenen, die wankend an ihr vorbeiliefen, anzusehen. Sie bemerkte, wie ein Junge – oder ein Mädchen, so genau konnte man das unter all dem Dreck nicht erkennen – an ihrem Rock zupfte. Aminara zog eine Silbermünze aus ihrer Tasche und warf sie hinter sich – sie konnte das Kind nicht einfach ignorieren.
Sie ging weiter, vorbei an schäbigen Spelunken, heruntergekommenen Wirtshäusern, Bars und Bordellen. Sie wusste noch genau, wo sie ihrer Mutter einst begegnet war – und dahin war sie nun unterwegs. Ob sie es wollte oder nicht, die Worte der Prinzessin und ihres Begleiters waren ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Irgendwann hätte sie es sicher bereut, nicht den gut gemeinten Rat befolgt zu haben.
Ein paar Minuten später bog Aminara um eine Ecke und blieb zögernd stehen. Weiter vorne sah sie das Bordell. Es grauste sie selbst von der Weite. Sie kniff die Augen zusammen. Vor dem Eingang stand eine Frau. Und Aminara erkannte sie. Ihre Mutter. Nun, immerhin würde sie das Haus also nicht betreten müssen.
Seufzend ging sie auf das Gebäude zu. Die Frau stand mit dem Rücken zu ihr. Als Aminara fast schon bei ihr war, hörte sie ihre Schritte auf dem Asphalt und drehte sich um. Wohl hatte sie einen Kunden erwartet, denn sie setzte ein aufreizendes Lächeln auf. Das beim Anblick ihrer Tochter sofort in sich zusammen fiel. Ihre Augen weiteten sich. „Du bist es", hauchte sie, „mein Mädchen." Sie machte einen Schritt auf Aminara zu und lächelte sie warm an. Aminara wich zurück. Abermals verblasste das Lächeln ihrer Mutter. „Was ist? Hast du ernsthaft erwartet, dass ich dir mit Wärme begegne und dich in die Arme schließe, Mutter?" Sie wich noch einen Schritt zurück. Ihre Mutter schluckte. „Du hast mich zum Sterben verdammt", zischte Aminara. „Du hast mich ausgesetzt wie einen Straßenköter." Sie funkelte ihre Mutter an. Diese sank in sich zusammen. Erst jetzt fiel Aminara auf, dass ihre Mutter wieder so einen Fetzen von Stoff trug, der kaum das Nötigste bedeckte.
Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn ihrer Mutter hin. „Da. Damit ich diesen nuttigen Anblick nicht ertragen muss." Gekränkt streifte ihre Mutter das Kleidungsstück über. Aminara war ein Stück größer als sie, doch auch ohne diese Tatsache hätte sie von oben auf ihre Mutter hinabgesehen. „Bitte", flehte ihre Mutter mit einem gequälten Gesichtsausdruck. Aminara zog eine Augenbraue hoch. „Bitte. Du musst mich verstehen, Kind", sagte sie verzweifelt. Sie machte Anstalten, ihrer Tochter über die Wange zu streichen, ließ es aber – sehr zu Aminaras Freude – dann doch bleiben. Die Frau rang mit sich, was sie zuerst sagen sollte. Es war zu deinem Besten, entsprach zwar der Wahrheit, würde aber geheuchelt klingen und für ihre Tochter danach aussehen, als würde sie nur sich selbst ins rechte Licht rücken wollen. Sie entschied sich für: „Sie wollten dich ebenfalls zur Kurtisane ausbilden, mein Mädchen. Und glaub mir, ich wollte um jeden Preis, dass du dieses Schicksal nicht erleiden musst."
Tränen standen in ihren Augen, warteten darauf, befreit zu werden. Aminara schnaubte. „Du Wohltäterin. Wenn das so ist, ist es natürlich völlig gerechtfertigt, sein wenige Tage altes Baby auf der Straße auszusetzen." „Bitte. Hör mich an." „Du hast drei Sätze, um mich zu überzeugen, Mutter." Aminaras Mutter atmete einmal tief durch. „Ich... Ich war elf Jahre alt, als ich ins Bordell kam, 14, als... Als ich mit meinem ersten Kunden schlafen musste. Nein, mein Kind, ich bin nicht freiwillig eine Hure geworden. Und... Sie wollten dich zu genau dem machen, was ich bin. Das... Das konnte ich nicht zulassen." Sie sackte in sich zusammen: Sie hatte gründlich versagt, ihre Worte waren keinesfalls überzeugend gewesen. Aminara zog eine Augenbraue hoch, aber der Hass verschwand aus ihren schönen Gesichtszügen.
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The Lion and his Angel - Throne of Glass Fanfiction
Fanfiction⚠️ Fortsetzung zu "The untold story of Eliza Ashryver, daher Spoiler in Geschichte und Klappentext⚠️ Eliza und Gavriel. Die Prinzessin und der Krieger. Einst lernten sie sich durch einen glücklichen Zufall kennen und verliebten sich unsterblich ine...