Kapitel 5 - Leben

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In Momenten wie diesen wallte der alte Zorn – ja, sogar der Hass – auf Gavriel wieder auf. 

Gavriel sank in sich zusammen. Da war er wieder, dieser Hass in Aedions Augen. Er machte ihn fertig und unglücklich und traurig. Aedion bekam sich wieder in den Griff. „Tut mir leid", sagte er und meinte es auch so. Sein Vater winkte ab, aber er sah, dass seine Reaktion ihm sehr wohl etwas ausgemacht hatte. Verdammt, was musste man ihm auch jede Regung an den Augen ablesen können? Wieder brachte Aedion schnell ein anderes Thema zur Sprache: „Du...Du hast die ganze Zeit über deine Brust, den Bereich über deinem Herzen, gestrichen. Wieso?" Gavriel sah ihn verwirrt an. „Du hast es bemerkt?" Aedion nickte. Gavriel seufzte. „Ich..." Er griff hinten in den Kragen seines Shirts und zog ein schmales Lederband heraus – eine Kette.

Unten an der Schnur hing ein fein gearbeiteter Gegenstand aus Gold, in den unterschiedliche Edelsteine eingefasst waren: Ein Rubin, Saphire und sogar Brillanten. Überall waren Schnörkel und Verzierungen aus Gold. Die Ränder sahen irgendwie abgebrochen und scharfkantig aus und bei näherem Hinsehen erkannte Aedion auch, dass einige Edelsteine fehlten. Gavriel strich sanft mit der Hand darüber, andachtsvoll, während die Erinnerungen in ihm aufstiegen. „Was ist das?", fragte Aedion und riss seinen Vater damit aus seinen Träumereien von einem rauschenden Ball, wirbelnden Kleidern und einer Frau, die schöner und kostbarer war als alle Edelsteine der Welt. „Das... Dieses Diadem ist mein größter Schatz, Aedion." Jetzt erkannte er, dass sein Vater tatsächlich eine Art Diadem in den Händen hielt, aber es war eben sehr stark beschädigt, deswegen hatte man es nicht gleich erkennen können.

Bevor Aedion weiter nachfragen konnte, wusste er plötzlich, dass dieses Diadem irgendetwas mit seiner Mutter zu tun hatte. Sein Vater erklärte mit einer rauen, zerbrechlichen Stimme: „Auf dem Ball, Aedion, wo Elizas und meine Beziehung erst richtig angefangen hat, da hat sie dieses Diadem als Preis für ihren Sieg als Ballkönigin bekommen. Ich war so stolz auf sie, Aedion, das kannst du dir gar nicht vorstellen." Seine Augen leuchteten auf. „Eliza hat es die ganze Nacht getragen. Einerseits ist es eben einfach ein Erinnerungsstück an sie... Und andererseits... Andererseits bedeutet mir das Diadem unglaublich viel, weil deine Mutter in dieser Nacht und bis zum Ende unserer Beziehung meine Königin war, mehr, als Maeve es jemals war. Und in dieser ersten Nacht hat mir die Krone, die sie trug, genau das klargemacht – sie gab meinem Verstand den letzten Rest, um es zu verstehen. Sie war nicht meine Königin, weil sie mich herumkommandiert oder mir Befehle gegeben hätte, sondern weil ich alles für sie getan hätte. Alles, Aedion. Ich habe ihr die Welt zu Füßen gelegt und wäre bereit gewesen, alle Gesetze dieser Welt zu brechen, wenn sie mich darum gebeten hätte. Ja, ich hätte alles für Eliza getan. Und das ganz ohne Bluteid."

Das hatte sein Vater schön gesagt, fand Aedion. „Und als ich Eliza verlassen musste, habe ich mir das Schmuckstück geschnappt, um eine Erinnerung an sie zu behalten. Ich habe die Kette mit dem Diadem all die Jahre über getragen, selbst auf Schlachtfeldern. Deswegen sieht es auch so mitgenommen aus...", schloss Gavriel schließlich. Seine Miene war traurig, aber Aedion konnte auch noch die Freude in den Augen seines Vaters erkennen, die die Erinnerungen ausgelöst hatten. Wirklich, es war eine Schande, dass Maeve tot war. Zu gerne hätte er sie dafür leiden lassen, dass sie für die Trennung seiner Eltern gesorgt hatte – ganz zu schweigen von all den anderen Gräueltaten, die er Maeve gerne heimzahlen würde. Seine Mutter und Gavriel hatten sich so sehr geliebt. Wäre Maeve nicht gewesen, hätten die Beiden wahrscheinlich geheiratet und sich eine gemeinsame Zukunft aufgebaut... Aedion merkte, wie er schon wieder in diesen sinnlosen Träumereien zu versinken drohte. Das brachte ihm nichts, seiner toten Mutter nichts und seinem Vater nichts.

Dieser fädelte gerade wieder die Kette mit dem Bruchstück des Diadems um seinen Hals und strich noch einmal darüber, bevor er den Anhänger im Kragen seines Hemdes verschwinden ließ. Gavriel seufzte. Die derzeit in seiner Brust vorherrschende Enge war kaum auszuhalten. Je öfter er die Worte Elizas Grab dachte, desto trauriger wurde er. Er würde Eliza nie wiedersehen. Sie würde nie wieder unter den Lebenden wandeln. „Ich komme wieder", murmelte er und beugte sich hinab, um noch einen Kuss auf das Grab zu drücken. „Bis bald, mein Schatz", fügte er ganz leise hinzu. Er nickte Aedion zu und erhob sich. Gavriel brauchte jetzt Zeit für sich. Auch Aedion stand auf. Als Gavriel sich vom Grab entfernte, folgte Aedion ihm in respektvollem Abstand.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt