Dunkelheit (7)

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Das Kapitel spielt zwar nicht mehr in der Dunkelheit, damit ihr aber wisst, dass es dazugehört, habe ich es trotzdem so genannt :D

Die Fae senkte ihr Haupt und schlängelte sich durch die Menschenmassen auf den belebten Straßen der winterlichen Stadt. Sie machte sich so klein wie möglich, versuchte, niemanden mit den Schultern zu streifen oder zu berühren. Sie hasste Körperkontakt. Doch der Körperkontakt hatte auch einen Vorteil: Ab und an konnte sie ihre Hand in Manteltaschen oder Rückenbeutel gleiten lassen und dem Besitzer ein paar Münzen oder Wertgegenstände entwenden. Darin war sie ganz geschickt, aber die Bewohner dieser Stadt hatten nicht viel zu bieten – wirklich, die meisten von ihnen waren bettelarm. Egal, ihr mageres Diebesgut musste nur für ein bisschen Essen genügen, mehr nicht, und das würde schon drinnen sein. Manchmal, wenn sie viel Beute gemacht hatte, hatte sie sich den Luxus eines Hotels oder einer Pension erlaubt. Ein Dach über dem Kopf war etwas, in dessen Genuss Kaitlyn, die Diebin, nicht sehr oft kam. Obwohl sie eigentlich lieber direkt unter dem Himmelsfirmament schlief, war ein Hotel manchmal doch gar nicht so verkehrt, denn dort gab es ein weiches, bequemes Bett und nicht nur einen knorrigen Ast oder kalte, feuchte Erde.

Einige Menschen um sie herum begannen zu tuscheln und zu johlen. Auf einmal drängelten sie alle in dieselbe Richtung – links von ihr, wo sich ein großer Platz befand. Jeder und jede versuchte, nach vorne zu gelangen und einen Blick auf was  auch immer sich auf dem Platz befand zu erhaschen. Kaitlyn kümmerte das herzlich wenig – oder vielleicht kümmerte es sie doch. Die Menschen waren abgelenkt, und so konnte sie unbemerkt Münzen aus Geldbeuteln und Taschen stehlen und Schmuck von den Hälsen greifen. Vielleicht würde sie heute Nacht doch nicht auf der Straße schlafen müssen. Kait leckte sich in diebischer Vorfreude über die Lippen, als sie einen älteren Herrn erblickte, der reicher aussah als die anderen Bürger dieser Stadt. Er trug Pelze, reichlich Ringe und war nicht gerade schlank. Seine Schuhe waren frisch poliert und sein schütteres Haar gekämmt und gegelt. Vielleicht ein Lord, Grundbesitzer oder Kaufmann. Wenn man es genau nahm, war sie zwar definitiv nicht in dieser Stadt, um ihrem zwielichtigen Handwerk nachzugehen, sondern aus einem ganz anderen Grund, aber ein bisschen Spaß musste sein. Für sie hatte das Stehlen eine ganz besondere Bedeutung, denn es war eine der ersten Handlungen gewesen, die sie in Freiheit und aus freien Stücken getan hatte.

Sie kämpfte sich vorwärts, auf ihre Beute zu. Genau wie alle anderen starrte der Mann in Richtung Platz. Inzwischen konnte Kait einzelne Worte heraushören, die wie König und Königin und Helden klangen. Sie war zu beschäftigt mit ihrem Coup, um dem Getuschel Aufmerksamkeit zu schenken. Kaitlyn konnte an der Hüfte des Mannes unter seinem Pelz eine Wölbung erkennen, was darauf schließen ließ, dass er dort seinen Geldbeutel aufbewahrte. Sie entschied sich nicht für den unbemerkten Weg zu stehlen, sondern für die Masche des tollpatschigen jungen Mädchens. Sie war kein Mädchen und auch nicht jung und auch kein Mensch, aber ihre Opfer waren meist zu perplex, um diese Tatsachen zu erkennen. Ihr langes Haar verdeckte ohnehin ihre spitzen Ohren. Sie erreichte den Mann und rumpelte ungeschickt – so zumindest der Schein - gegen ihn.

Er drehte sich blitzschnell um und starrte sie wütend an. Durch den Schwung seiner Umdrehung hob sich der Pelz. Das war alles, was Kaitlyn brauchte. Innerhalb eines Sekundenbruchteils stolperte sie erneut, ließ es so aussehen, als hätte jemand hinter ihr sie geschubst und griff nach der Geldbörse des Mannes. Kait schaute den Mann entschuldigend an – ganz das junge Mädchen, dem alles furchtbar leidtat – und ließ währenddessen den prall gefüllten Geldbeutel des Mannes in ihrem Mantel verschwinden. „Es tut mir so furchtbar leid", sagte sie und zwang Tränen in ihre Augen. „Ich wollte nicht..." Klatsch. Zuerst wusste sie nicht recht, wie ihr geschah, doch das von ihrer Wange ausgehende Brennen ließ wohl keinen Erklärungsspielraum zu. „Miststück!", fluchte der Mann. „Denkst wohl, du kannst mich bestehlen, was? Nicht mit mir! Ich kenne Abschaum wie dich."

Kait schluckte. Hatte sie sich etwa so dumm angestellt oder war ihr Gegenüber einfach nur besonders aufmerksam? Gut, sie musste zugeben, dass das hier nicht ihre Meisterleistung gewesen war, doch... „Gib mir meinen Geldbeutel zurück, Mädchen!", knurrte der Mann. Ohne lang zu überlegen, drehte sie sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Sie schubste Körper beiseite und kämpfte sich mit den Ellbogen durch die Menge. „Diebin!", brüllte der Mann hinter ihr. „Diebin! Haltet die Diebin!" Die ersten Menschen reagierten und versuchten, ihren Ärmel oder ihre Haare zu fassen zu bekommen. Sie spürte, wie plötzlich viele Augen auf sie gerichtet waren. Das Geschrei ihres Opfers wurde lauter. Kaitlyn sah, wie sich die Menge in einiger Entfernung lichtete. Das war gut, dann würde die Flucht nicht mehr so schwer sein. Es war extrem anstrengend, sich durch all die Körper zu kämpfen. Kaits Blick fiel auf ein paar Kinder, abgemagert und dürr, die sich an die Beine ihrer Eltern pressten und in ihren ärmlichen Klamotten fürchterlich froren.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, rupfte sie den Lederbeutel aus ihrer Manteltasche und riss ihn auf. Sie warf den Kindern goldene Münzen zu und verstreute auch den Rest in der Menschenmenge. Diese Leute brauchten das Geld mehr als sie. Es war ihr egal, wer es bekam, diese Menschen sahen alle schrecklich bedürftig aus. Einige stürzten sich wie Krähen auf das Geld. Das war Kaitlyn nur recht, so waren sie abgelenkt und sie konnte besser fliehen. Jetzt hatte sie zwar kaum Beute mehr – erstes Bedauern stieg in ihr auf, weil sie das ganze Gold fortgeworfen hatte –, fliehen sollte sie aber wohl besser trotzdem. Sie hatte das unangenehme Gefühl, verfolgt zu werden und rannte schneller. Nur noch wenige Meter, dann würde ihr Weg nicht mehr so stark durch Körper behindert sein. Sie gab noch einmal alles und verließ schließlich die Masse. Freiheit. Endlich Freiheit, nun würde sie richtig rennen und ihre Verfolger abhängen können... Kaitlyns Kiefer schlug hart auf dem kalten Stein auf.

Sie schmeckte Blut, ihr Kopf schmerzte... Jemand musste ihr ein Bein gestellt haben. Und sie hatte es erst bemerkt, als sie schon auf dem Boden gelegen hatte. Heute war wohl wirklich nicht ihr Tag, ihr passierten lauter Anfängerfehler. Das mochte wohl an ihrer Aufregung liegen. Kaitlyn wollte sich aufrappeln, merkte dann aber, dass sie nicht die Kraft dazu hatte. Das lag gar nicht einmal so sehr an dem Sturz, zumindest nicht nur, sondern eher an der immerwährenden, niederdrückenden Schwere ihres Lebens. Einfach liegenzubleiben war so viel einfacher. Zu oft schon hatte sie sich in ihrem Leben wieder aufgerappelt, hatte immer weitergemacht. Vielleicht war jetzt Schluss damit. Sie begann zu schluchzen, hatte genug von all dem Leid und Schmerz. Manchmal – wie jetzt - wurde Kait überrollt von den Geistern der Vergangenheit und all dem Mist, den sie erlebt hatte, und wenn das geschah, war es, als hätte jemand ihr den Antrieb genommen und damit jeden Willen, zu handeln, zu denken, zu sprechen.

In diesen Momenten blieb nichts als der Hass und die Trauer. Sie ließ den Kopf auf die Pflastersteine sinken. Es war alles so sinnlos. Das Leben, das Stehlen, das Atmen, das Aufstehen und Rennen. „Miss?", fragte eine männliche Stimme hinter ihr. „Stehen Sie auf." Es war zwar kein Befehl, aber die Worte duldeten dennoch keinen Widerspruch. Ohne den Inhaber der Stimme zu sehen, wusste Kait, dass es sich um eine unglaublich mächtige, alte Präsenz handelte. „Ich kann nicht", flüsterte sie leise. Sie wusste nicht, wieso sie überhaupt etwas sagte. Der Mann ging um sie herum und kniete sich vor sie. Er streckte eine Hand aus und Kait blickte zu ihm auf. Und erstarrte. Genau wie er, als sich ihre Blicke trafen. Kaitlyns Herzschlag verlangsamte sich. Sie vernahm weitere Schritte – diesmal die einer Frau.

Die Frau stellte sich neben den Mann, den Kaitlyn nach wie vor unverwandt anstarrte. „Was ist los, Rowan? Kennst du diese Frau?", fragte sie. Rowan. Rowan. Damit gab es wohl keine Zweifel mehr. Kait schnappte nach Luft. „Wer bist du?", hauchte Rowan Whitethorn Galathynius, König von Terrasen, obwohl er es eigentlich – tief in seinem Inneren – bereits ahnte. Diese Fremde... War keine Fremde. „Ich... Ich... Bin deine Tochter", flüsterte sie.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt