Kapitel 15 - Geständnis

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Am Abend des übernächsten Tages wartete Gavriel immer noch sehnsüchtig darauf, dass Eliza aufwachte. Er wusste, dass ein Körper nach derartigen Verletzungen Zeit brauchte. Dennoch, er wünschte sich sehnlichst, wieder ihre süße Stimme hören zu können, auch, wenn sie ihn wahrscheinlich wieder anschreien würde. Egal, erst einmal war das Wichtigste, dass Eliza überhaupt wieder erwachte. Er würde nicht mehr ruhig schlafen können, wenn er wüsste, Eliza ein zweites Mal verloren zu haben – und diesmal wahrscheinlich für immer.

Gavriel hatte alle paar Stunden die Verbände an Elizas Flügel ausgetauscht und neue Salbe darauf geschmiert. Es war noch nicht wirklich ein Heilprozess erkennbar, aber auch das brauchte eben Zeit. Elizas Körper konnte die Wunde nicht magisch schließen, denn dazu waren die Wundränder viel zu weit auseinander. Und wenn Gavriel es sich recht überlegte und an die Heilungen von Elizas Armen und Beinen dachte, die so schrecklich schiefgelaufen waren, sollte ihr Körper lieber die selbstständige Knochenbruchheilung unterlassen. Glücklicherweise hatte Elizas Körper noch keine Anstalten gemacht, die gebrochenen Knochen der Flügel zu heilen. Besser so.

Gavriel musterte Eliza, die Prinzessin im undurchdringlichen Schlaf. Er hatte, als er jung gewesen war, einmal eine Geschichte von einer verfluchten Prinzessin gehört, die in einem hundertjährigen Schlaf gefangen gewesen war und nur durch ihren Märchenprinzen gerettet werden konnte. Er hatte die Geschichte wirklich gerne gemocht, sie war so romantisch. Auch jetzt fand er wieder Gefallen daran. Vielleicht sollte er Eliza küssen, damit sie wach wurde, wie der Märchenprinz es bei seiner Aurora getan hatte? Die Vorstellung war ebenso verlockend wie unrealistisch. Und nein, er sollte es nicht tun, Eliza wollte nicht von ihm geküsst werden – und das sollte und wollte er respektieren.

Eine zarte Hand schlang sich mit einem festen Griff um seine. Gavriel zuckte zusammen. Als er auf seine Finger hinabblickte, waren sie fest mit Elizas verschlungen. Beim Wyrd... Sein Herz schlug auf einmal viel zu schnell in seiner Brust. Er sah in Elizas Gesicht. Ihre Augen waren offen, sie starrte verwirrt an die Zimmerdecke. Ganz langsam drehte sie ihren Kopf zu ihm und blickte ihn an. Gavriel schluckte. Elizas Blick war offen, warm und freundlich, keine Spur dessen, was jüngst zwischen ihnen vorgefallen war. Mit brüchiger Stimme sagte Eliza: „Vergiss, was ich gesagt habe, Gavriel. Komm her und küss mich." Zum Teufel mit allen guten Vorsätzen. Es war ein Angebot an ihn, eines, das er natürlich auch ablehnen könnte – was sie gut verstehen könnte, nach all den schrecklichen Dingen, die sie ihm vorgeworfen hatte.

Eliza wollte sich bei ihm entschuldigen, aber zuerst wollte sie einen Kuss. Himmel, wie sehr sie sich danach sehnte, Gavriels Lippen wieder auf ihren zu spüren... Lange genug hatte sie ihn von sich ferngehalten. Sie hatte gespürt, wie liebevoll er sich um sie gekümmert hatte, während sie ohnmächtig gewesen war – und auch, was ihm für Dinge durch den Kopf gegangen waren. Und diese Dinge hatten das Fass zum Überlaufen gebracht, sie dazu bewegt, diesen Kuss zu wollen.

Eine Sekunde lang starrte Gavriel sie nur an. Zwischen ihnen war noch viel Ungesagtes, aber für den Moment... Für den Moment war ein Kuss perfekt, das, was sie beide brauchten. Also beugte Gavriel sich vor und hob Elizas Oberkörper leicht an, um sie besser erreichen zu können. Dabei achtete er genau darauf, ihr nicht wehzutun. Ohne lang zu fackeln brachte er sein Gesicht ganz vor ihres und legte seine Lippen auf Elizas. Ganz sanft, ohne Druck. Es war ein wunderschöner, sanfter Kuss, der die Welt um sie herum stillstehen ließ. Er war alles, was Gavriel sich je erträumt hatte.

Eliza fuhr mit den Fingern durch Gavriels Haare, während sie den sanften, liebevollen Kuss erwiderte, den er ihr schenkte. Mit diesem Kuss zeigte sie ihm, viel besser, als Worte es jemals könnten, dass sie alles, was sie bei ihrem Streit gesagt hatte, nicht so gemeint hatte und dass es ihr leidtat. Aufrichtig leid. Gavriel spürte ihre Entschuldigung und akzeptierte sie. Die Beiden hätten ewig so weitermachen können, aber die verdammte Atemknappheit machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Gavriel löste sich von Eliza, hielt ihren Hinterkopf mit einer Hand sanft fest und sah ihr in die Augen. Darin fand er die gleiche Liebe, die auch in seinem Blick zu sehen sein musste. „Wie bei unserem allerersten Kuss", hauchte er mit rauer Stimme.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt