Kapitel 12 - Hass

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„Eliza. Du hast selbst gesagt, ich solle die Vergangenheit ruhen lassen. Vielleicht solltest du das auch. Was passiert ist, ist nun einmal passiert. Niemand kann daran etwas ändern, auch wenn er seine Taten noch so sehr bereut. Hör auf, dir Vorwürfe für etwas zu machen, das so lange vergangen ist. Hör auf, dir Vorwürfe für etwas zu machen, das nicht du verschuldet hast. Hör auf, dir Vorwürfe für etwas zu machen, das mehr Gutes, als Schlechtes bewirkt hat."

Er küsste ihren Scheitel. Eliza war überrascht, das Gavriel das so locker sah und sie nicht anschrie oder anbrüllte. Immerhin hatte sie doch seinem Sohn die Magie – die in ihrer Welt mit Macht gleichzusetzen war – gestohlen. „Manchmal treffen wir Entscheidungen, Eliza, die wir in diesem Moment für richtig halten. Manchmal sind sie das wirklich und manchmal, stellen wir im Nachhinein fest, sind sie das eben nicht. Ich kann dir sicher sagen: Die Entscheidung, die du in diesem Turm getroffen hast, die Entscheidung, Aedions Magie zu nehmen, um ihm im Gegenzug ein Leben mit seiner Mutter zu ermöglichen", er drückte sie noch fester an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, „könnte richtiger gar nicht sein." Seine Worte waren so schön, dass sie ihnen gerne glauben wollte. „Überleg doch mal: Angenommen, du hättest Aedions Magiequelle nicht angerührt, wäre dir keine Flucht gelungen. Du hättest ihn auf die Welt gebracht und, dank deiner Mutter, wahrscheinlich nie wiedergesehen. Dein Leben lang hättest du wahrscheinlich getrauert und nach deinem Kind gesucht, das man dir geraubt hatte.

Du hast dich gegen ein solches Leben entschieden. Du hast mit Aedions Magie dafür gezahlt, dass ihr beide ein glückliches Leben miteinander verbringen konntet. Ich würde sagen, das ist ein guter Tausch. Einer, für den sowohl du, als auch Aedion, wahrscheinlich mehr als dankbar seid." Jedes einzelne Wort, das er gesagt hatte, hatte er auch so gemeint. Es war die Wahrheit. Er hoffte, dass Eliza das auch eines Tages so sehen können würde. Und tatsächlich hatten Gavriels Worte sie zum Grübeln gebracht, ihr einen Teil ihrer Gedankenwelt offenbart, den sie vorher nicht zu betreten gewagt hatte.

Aedion zog sich langsam und mucksmäuschenstill zurück. Er hatte jedes verdammte Wort von dem gehört, was seine Mutter und sein Vater gesprochen hatten. Jedes. Verdammte. Wort. Er hatte im Garten zufällig seine Eltern gesehen, hatte zu ihnen gehen und hallo sagen wollen. Dann hatte er aber beobachtet, wie sie sich fast geküsst hätten. Da er diesen Moment nicht zerstören wollte, hatte er sich hinter einer Hecke versteckt und von dort aus zugesehen. Und dann hatte seine Mutter angefangen, zu reden und er hatte sich nicht dazu durchringen können, sich wieder zu entfernen und das Gespräch nicht zu belauschen - zumal es ja um ihn ging. Er wusste nicht, wie er sich jetzt, wo er das alles gehört, hatte, fühlen sollte. Er wollte wütend sein, wirklich. Er hätte über Magie verfügen können. Die Fähigkeit, seine Gestalt zu ändern.

Aber Aedion wusste auch, dass es verdammt unfair wäre, so zu fühlen. Seine Mutter hatte so gehandelt, um ihn zu schützen, um ihn behalten zu können. Er liebte sie dafür, dass sie so viel getan hatte, damit man ihn ihr nicht wegnahm. Schon vor seiner Geburt hatte sie ihn so sehr geliebt, dass sie sich kein Leben ohne ihn vorstellen konnte, und das, obwohl sie blutjung und einsam und von Gavriel verlassen gewesen war. Diese Frau verdiente alle Achtung der Welt, seine eingeschlossen. So sank er an der Hecke hinab und hockte sich auf den eiskalten Boden, um sich darüber klar zu werden, wie er auf das neue Wissen reagieren sollte. Vielleicht hatte ihm seine Mutter mit ihrem Handeln sogar das Leben und damit die Leben vieler Leute aus Terrasen gerettet. Hätte er über die Gabe der Magie verfügt, als Adarlan seinen Kreuzzug gegen die Magie vor mehr als elf Jahren begonnen hatte, hätte man ihn vielleicht hinrichten oder einsperren lassen. Da dies aber nicht der Fall gewesen war, hatte er zu einem geschätzten General werden können, der viele seiner Landsleute durch seine Tricks hatte retten können.

Der König von Adarlan war auf seinen Betrug hereingefallen. Hätte er eine magische Gabe besessen, wäre ihm vielleicht noch genauer auf die Finger geschaut worden, man wäre ihm misstrauischer begegnet und ihm nicht so schnell so blind vertraut. Dann hätte er es nie so weit geschafft, wie er es eben geschafft hatte. Wenn er es sich recht überlegte, überwogen im Moment die Vorteile davon, keine Magie zu besitzen. Er machte sich in solchen Situationen gerne derartige Listen im Kopf, in denen er Vor- und Nachteile gegeneinander abwog und dementsprechend seine Reaktion bemaß. Aedion legte die Hände vors Gesicht und seufzte. Was für ein Schlamassel das doch alles war.

Ein paar Minuten später stand Eliza von der Bank auf. Gavriel hielt ihre Hand und erhob sich mit ihr. Es war schön, wenn man einander Dinge anvertraute und dann versuchte, gemeinsam eine Lösung dafür zu finden. Es hatte ihnen beiden sehr gut getan, so offen über dieses Thema zu sprechen. Eliza war zwar unendlich dankbar, dass Gavriel sie jetzt nicht hasste, aber um ehrlich zu sein, hatte sie das Gegenteil erwartet. Vor allem erschwerte das alles. Würde Gavriel sie hassen, müsste sie ihm nicht sagen, dass sie nicht bereit für eine Beziehung war. Doch sie wusste natürlich selbst, dass es sie innerlich zerstören würde, wenn Gavriel sie hassen würde. Sie liebte ihn so sehr. Und trotz dessen hatte sie Angst vor einer Beziehung mit ihm, auch, wenn es insgeheim das war, was sie sich am meisten wünschte.

Und gerade, als die beiden durch das Labyrinth den Garten verlassen wollten, sahen sie jemanden am Boden kauern. „Aedion", keuchten Eliza und Gavriel gleichzeitig. „Wie viel hast du gehört?", fragte Eliza. Aedion blickte grimmig zu ihr auf. „Alles."

༻❀༺

Eine Woche später

Eliza zuckte im letzten Moment zurück und legte Gavriel eine Hand auf den Mund. Sie wandte sich ab und drängte die Tränen zurück. Gerade eben hatte es wieder einen dieser perfekten Kussmomente gegeben. Gavriel hatte ihn genutzt und Anstalten gemacht, sie zu küssen. Wieder einmal hatte sie gedacht, sie könnte es, war kurz gewillt gewesen, sich darauf einzulassen. Aber sie konnte es nun einmal nicht, und das würde sie jedes Mal wieder feststellen. Jetzt reichte es. Jetzt konnte sie nicht mehr. Jetzt war es an der Zeit, Gavriel reinen Wein einzuschenken, damit er endlich wusste, woran er war. „Es ist aus", sagte sie geradeheraus und sah ihn an. Eine Träne lief ihr aus dem Augenwinkel. „Was?" „Es ist aus mit uns. Das mit uns hat keine Zukunft. Wir haben keine Zukunft." Tränen rollten ihre Wange hinab. Gavriel schnappte nach Luft. „Was?", fragte er geschockt. Er legte Eliza eine Hand auf den Arm. „Eliza..." Sie schüttelte ihn ab und wich einen Schritt zurück. Sie schaffte es tatsächlich, Hass in ihren Blick zu legen und Gavriel mit tränenverschleierten Augen anzusehen.

An dem verletzten Zucken, das durch seine Züge ging, konnte sie erkennen, dass er den Hass wahrgenommen hatte. Sie musste ihn dazu bringen, sie zu hassen, dann würde es für sie beide leichter sein. Und sie hasste sich dafür, ihm das anzutun. Sie war sich aber sicher, dass er ihr später einmal dafür danken würde, ihm so viel Zeit erspart zu haben. „Hast du es nicht verstanden?", fuhr sie ihn mit perfekt gespieltem Hass an, „Es ist aus. Aus. Vorbei. Wag es ja nicht, mich je wieder zu küssen oder anzufassen oder anzusehen. Wag. Es. Ja. Nicht!" Gavriel sah aus, als hätte sie ihn geschlagen. Eine Träne bahnte sich den Weg seine Wange hinab. „Hast du das verstanden? Ich will nicht mit dir zusammen sein. Nicht jetzt und nicht in einer Million Jahren", brüllte sie hasserfüllt. Jedes einzelne Wort riss ein brennendes Loch in ihr Herz. Doch sie musste das hier tun. Für Gavriel. Gavriel wankte einen Schritt zurück. „Eliza... Was ist mit unserer Liebe? Unsere Liebe hat dich zurückgebracht. Willst du das etwa einfach wegwerfen?", fragte er verzweifelt. „Sag mir, dass du mich nicht mehr liebst." Wahrscheinlich könnte sie es nicht, es bestand noch die Chance, dass sie ihn doch liebte. Eliza stieß ein hasserfülltes Lachen aus. „Oh. Glaub mir, ich liebe dich nicht mehr. Ich habe in den harten Jahren, in denen ich alleine für dein Kind sorgen und die Verachtung der Gesellschaft ertragen musste, aufgehört, es zu tun. Ja, ich habe dich einmal geliebt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Ein für alle Mal." Gavriel bekam kaum noch Luft. „Eliza...", versuchte er es noch einmal. „Lass mich in Ruhe! Such dir eine andere Frau. Aber lass mich in Ruhe. Mit einer anderen Frau bist du sowieso besser beraten." 

„Aber ich will dich..." „Ich dich aber nicht!", schrie sie, „Also lass mich verdammt nochmal in Ruhe und werde glücklich mit jemand anderem. Das mit uns wird nichts. Niemals. Nicht in tausend Jahren." Und dann sprach sie die Sätze aus, die am Meisten von allen schmerzten: „Das hast du für immer vermasselt, als du mich damals verlassen hast. Ich will nicht mit so einem elenden Feigling wie dir zusammen sein, der seine sechzenjährige Partnerin schwängert und sie dann damit alleine lässt. Was denkst du, wer du bist, dass ich dich, nach allem, was du mir angetan hast, je wieder lieben könnte? Du hattest deine Chance, Gavriel. Und die hast du vertan. Finde dich endlich damit ab, dass du keine Zweite bekommen wirst. Ich hoffe, du bereust die vielen Fehler, die du gemacht hast. Ich für meinen Teil bereue es jedenfalls, mich jemals mit dir eingelassen zu haben. Das war der größte Fehler meines Lebens."

Ihr Herz brach in tausend Stücke. Gavriels auch. Er starrte sie nur an, während seine Tränen unaufhörlich auf den Boden tropften. Bevor einer von ihnen etwas sagen oder unternehmen konnte, drehte sich Eliza rasch um und rannte zur Balkontür. Mit einer schnellen, brutalen Bewegung riss sie diese auf und trat hinaus in die kühle Abendluft. Mit einem Satz schwang sie sich aufs Geländer. Und sprang.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt