Kapitel 26 - Gabe

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Am nächsten Tag machten sich Eliza und Gavriel auf den Weg zur Schneiderei. Aedion besuchte währenddessen mit Lysandra seinen Freund Galan, den Kronprinzen von Wendlyn, im Palast. Es war schon Mittag, als Eliza und Gavriel bei Dalias Schneiderei eintrafen. Im Schaufenster waren drei atemberaubende Kleider in blau, rot und grün sowie ein eleganter Anzug für Herren mit goldenen Ärmelaufschlägen ausgestellt. Eliza kniff die Augen zusammen und musterte das rote Kleid. Dass es wunderschön war, stand außer Frage. Während Eliza es betrachtete, schien es sich jedoch zu verändern. Es schien, als würden verschiedene Rottöne – von hellrot bis zum dunkelsten burgunderrot – über den Rock tanzen und sich dann in Wirbeln und Kreisen miteinander vermischen, um im nächsten Augenblick schon wieder einzeln über den Stoff zu wogen. „Siehst du das?", fragte Eliza Gavriel staunend und zeigte auf das rote Kleid. Er kniff die Augen zusammen und nickte dann.

„Eliza! Schau dir mal das grüne Kleid an!" Sie folgte seiner Aufforderung. Das Oberteil leuchtete grün, aber der Rock war gar nicht einfach nur grün, sondern auf ihm war ein filigranes Muster aus Blättern, Ranken und roten Rosen abgebildet. Alleine schon dieses Muster war ein atemberaubendes Kunstwerk, doch da war noch mehr. Eliza traute ihren Augen kaum, als sie sah, wie ein paar der abgebildeten Rosenknospen erblühten. Andere wiederum verwandelten sich zurück in Knospen, nur um dann aufzugehen und erneut ihre volle Schönheit zu entfalten. Die Blätter bewegten sich in einem Phantomwind. So etwas hatte Eliza noch nie gesehen. Was war das für ein Zauber? Es war ein wunderschönes Schauspiel, dem sie ewig hätte zusehen können.

Doch noch während sie das Rosenkleid betrachtete, fiel ihr Blick zufällig auf das blaue Kleid. Ihr blieb der Mund offenstehen. Das Kleid sah aus wie fließendes Wasser. Es war überwiegend dunkelblau wie das Meer, aber auch Akzente von hellblau, türkis und grün waren darin eingearbeitet. Die ganze Masse wogte über das Kleid, floss darüber wie ein Wasserfall. Das Wasser bildete Strudel aus weißem Meeresschaum. Eliza vergaß einen Moment, dass es sich bei diesem atemberaubenden und täuschend echten Kunstwerk um ein Kleid handelte. Sie schüttelte den Kopf. Wer auch immer dieses Meisterwerk geschaffen hatte, hatte ihren allergrößten Respekt verdient.

„Gehen wir hinein", sagte sie lächelnd zu Gavriel und nahm seine Hand. Er lächelte zurück, erinnerte sich an das letzte Mal, als sie zusammen den Laden betreten hatten. Eliza war 17 gewesen, sie hatten vor wenigen Tagen erst ihren ersten Kuss erlebt... Gavriel blieb stehen und hielt Eliza zurück. Sie drehte sich zu ihm um. „Was ist los?" „Warte." Er machte einen Schritt auf sie zu und schlang seinen Arm um sie, mit der anderen Hand strich er ihr übers Gesicht. Er küsste sie, ganz sanft und liebevoll. Danach gab er sie lächelnd wieder frei. „Jetzt können wir hineingehen, meine Liebe." Eliza lächelte ihn an und setzte ihren Weg fort. Doch dann blieb sie erneut stehen. In der Tür des Geschäfts stand eine junge Frau und lächelte sie und Gavriel freundlich an. Es war die schönste Frau, die Eliza je gesehen hatte.

Mit ihrer schokoladenbraunen, makellos glatten Haut, den dunkelbraunen Augen und den langen, tiefschwarzen Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichten, war sie die Vollkommenheit in Person. „Na, ihr zwei, wollt ihr euch etwas im Laden umsehen? Meine Mütter haben mir schon gesagt, dass ihr uns besuchen werdet." Sie zwinkerte Eliza zu. Dann musste das also Aminara sein. Eliza ging noch ein paar Schritte vorwärts und streckte die Hand aus. „Sehr erfreut. Ich bin Eliza." „Das kann ich nur zurückgeben, Eliza. Ich habe sehr viel von dir gehört. Ich bin Aminara." Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. Eliza trat beiseite. „Ich bin Gavriel, Elizas Lebenspartner", stellte er sich vor. Eliza kicherte. „Du bist nicht nur mein Lebenspartner, Gavriel! Du bist mein Gefährte!" „Natürlich, Eliza", lachte er. „Freut mich, dich kennenzulernen, Gavriel! Kommt doch rein!" Aminara hatte gar nicht nach Elizas Flügeln gefragt, was sehr angenehm war.

Eliza und Gavriel betraten den Laden. Eliza war sich ziemlich sicher, dass die Schneiderei vergrößert worden war, sie war riesig, viel größer als früher. Überall standen Kleiderpuppen mit bezaubernden Kleidern – manche waren wie die im Schaufenster, andere nicht – und es standen ein paar Grüppchen von Damen im Raum. Sie bewunderten die Kleider und tauschten sich über den neuesten Tratsch aus. Adelige Frauen, da war sich Eliza sicher. Dalia beriet eine der Frauen und führte sie anschließend im Laden herum. „Vielleicht habt ihr ja schon die besonderen Kleider im Schaufenster bemerkt", sagte Aminara und wies mit der Hand Richtung Schaufenster. „Allerdings", gab Gavriel zurück, „Vielleicht willst du uns ja verraten, wie ihr diese... Bewegung dort hineingebracht habt."

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt