Kapitel 10 - Schokolade

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Sie hatten eine Schneiderei besucht, die eine große Auswahl an Mänteln und Jacken bot. Kein Wunder, bei den Temperaturen. Die ältere Schneiderin hatte, nachdem sie sich von ihrem ersten Schock erholt hatte, schnell, sauber und ohne groß Fragen zu stellen, einen warmen Stoffmantel mit Futter für Eliza passend umgearbeitet. Sie hatte Löcher in den oberen Rückenbereich auf Höhe von Elizas Flügeln geschnitten und die Löcher dann mit Knopfleisten mit dem oberen Kragen verbunden. Indem Eliza die Knöpfe öffnete, konnte sie das neue Kleidungsstück ohne großen Aufwand anziehen. Man musste nur den Mantel anlegen und die Flügel durch die offenen Knopfschlitze in die Löcher fädeln und dann die Knöpfe verschließen – eine ähnliche Technik, wie sie sie schon von den Kleidungsstücken aus dem Unendlichen Königreich kannte. Eliza war wirklich froh um ihren neuen warmen Mantel gewesen, denn auch, wenn sie es auf dem Hinweg beim Reden nicht gemerkt hatte, hatte sie in ihrem dünnen Sommerkleid doch ganz schön gefroren.

Sie waren ungefähr eine Stunde durch die Hügel bei Orynth spaziert und hatten sich dabei besser kennengelernt. Sie hatten einander alltägliche Fragen gestellt wie über das Lieblingsessen, die Lieblingsfarbe oder die liebste Beschäftigung. Dinge, die Mutter und Sohn voneinander wissen sollten, was sie bis jetzt aber nicht getan hatten. Eliza und Aedion fanden, dass das ein Missstand war, der dringend behoben werden musste. Zusätzlich hatte Eliza Aedion noch gefühlte hundert Mal erzählt, wie süß er als Baby und Kind gewesen war. Immer hatte Aedion auch den Stolz in der Stimme seiner Mutter mitschwingen gehört, wenn sie diese Dinge erzählt hatte. Seine Mutter war früher stolz auf ihn gewesen und war es auch jetzt noch, das wiederum machte ihn stolz.

Irgendwann waren sie zum Schloss zurückgekehrt, denn Eliza war wieder eingefallen, dass sie nachmittags mit Königin Aelin verabredet war. Aedion hatte ihr noch ein paar Dinge über Aelin erzählt, die das leise Unbehagen, das Eliza verspürte, wann immer sie an das Treffen dachte, mildern sollten. Zum Beispiel Geschichten aus seiner und Aelins Kindheit, in denen sie in die sich still und heimlich in die Küche geschlichen hatten, um Schokoladenkuchen und Honigteigtaschen zu stibitzen. Oder dass Aelin verrückt nach Hunden war und auch eine Hündin hatte, Fleetfoot. Er hatte Eliza im Scherz geraten, Aelin Schokolade mitzubringen, denn damit würde sie garantiert im Fluge die Beliebtheitsliste der Königin erklimmen. Also hatte Eliza genau das getan und war dafür noch einmal nach Orynth gegangen. Aedion hatte ihr Geld gegeben, sie besaß ja noch kein eigenes. Sie hatte einen Pralinenladen und eine Bäckerei mit sehr, sehr vollen Taschen verlassen.

Danach war sie zu Gavriels Gemächern zurückgekehrt – und hatte sich sogar hineingetraut. Hoffentlich sprach er sie nicht auf vorhin an – und hoffentlich versuchte er nicht, den Kuss zu wiederholen. Denn Eliza war vorhin klargeworden, dass, wenn sie Gavriel küsste, sie die Verpflichtungen einer Beziehung erfüllen müsste. Und das konnte sie nicht. Sie konnte ihm nicht das geben, was er von ihr erwarten würde, wären sie erst einmal richtig zusammen. So war Eliza Aedion, im Nachhinein betrachtet, sogar ein wenig dankbar, dass er den Kuss unterbrochen hatte. Sie öffnete die Tür zu Gavriels Gemächern.

„Hey, ich bin wieder da!", rief sie. Schnell schlüpfte sie aus ihren Schuhen und stellte sie an den dafür vorgesehenen Platz, die Taschen mit den Süßwaren hängte sie an einen Haken. Danach öffnete sie die Flurtür. Gavriel saß auf dem Sofa und winkte ihr beim Hereinkommen. „Schau mal, mein neuer Mantel!", rief sie freudig und drehte sich einmal im Kreis, woraufhin sich der Mantel fliegend um sie bauschte. „Sehr schön, Eliza. Steht dir!" Er fügte lächelnd hinzu: „Wenn ich es mir recht überlege, gibt es nichts, was dir nicht steht. Erinnerst du dich an das Shirt von mir, mit dem du nach unserer ersten gemeinsamen Nacht in den Palast zurückgekehrt bist? Sogar das sah an dir gut aus, obwohl es dir so einige Nummern zu groß war und eine total komische Matschfarbe hatte."

Eliza grinste. „Ja, daran erinnere ich mich, Gav." Sie schlenderte zu ihm herüber und bat ihn: „Kannst du mir vielleicht helfen, den Mantel auszuziehen? Alleine ist das etwas schwer." „Klar." Er stand auf und öffnete die Knöpfe über ihren Flügeln. Dabei strich er wie zufällig über die weißen Schwingen, was ein angenehmes Erschauern durch ihren Körper schickte. Sie streifte den Mantel ab und sagte: „Das wirst du in Zukunft öfter tun müssen, Gav. Ich werde mir noch mehr Kleidung dieser Art besorgen, denn sonst müsste ich wohl nackt durchs Schloss laufen, da ich sämtliche normalen Kleider und Shirts ja nicht anziehen kann." Gavriel hätte schwören können, dass ihr Lächeln beim Wort nackt kurz ins Wanken geraten war. Aber genauso gut hätte er sich das auch einfach einbilden können.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt