Kapitel 11 - Reue

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Zwei weitere Nächte schlief Eliza so weit von Gavriel entfernt, wie es irgendwie möglich war – gerade so, dass sie nicht aus dem Bett fiel. In der dritten Nacht rückte sie ein bisschen näher zu ihm, in der vierten noch ein Stück. Und die fünfte Nacht verbrachte sie an ihn gekuschelt in seinen Armen. Von da an tat sie das jede Nacht. Gavriel war jemand, den sie in ihrer Nähe brauchte und der ihr diese Nähe auch gab, ohne mehr von ihr zu verlangen.

Gut zwei Wochen nach ihrer Rückkehr ins Leben waren sich Eliza und Gavriel zwar mit jedem Tag nähergekommen, aber richtig geküsst hatten sie sich noch nicht. Gavriel hatte einmal einen Versuch unternommen und Eliza hatte sich auch beinahe darauf eingelassen, aber im letzten Moment hatte sie doch noch kalte Füße bekommen, denn sie hatte realisiert, dass sie und Gavriel gerade auf dem Bett saßen. Da ihr das Risiko, Gavriel würde nach dem Kuss gleich weitermachen, zu hoch gewesen war, war sie zurückgewichen und hatte eine Entschuldigung gemurmelt. Gavriel würde zwar nie etwas machen, was sie nicht wollte, aber es bestand eben dennoch die Möglichkeit, dass er etwas sah, was er nicht sehen sollte, bevor sie ihn stoppen konnte.

Gavriel nahm es ihr nicht übel, dass sie noch nicht für den Kuss bereit gewesen war. Ein weiterer Grund, warum sie ihn so sehr liebte: Er ließ ihr immer die Zeit, die sie brauchte, drängte sie zu nichts und passte sich ihren Bedürfnissen an. Es wäre nur gerecht, wenn sie ihm endlich sagen würde, was los war – das hatte er verdient. Zumindest das könnte sie ihm geben... Sie sollte ihm sagen, dass er sich besser nach einer anderen Partnerin umsehen sollte als ihr, dass sie sicher niemand war, mit dem er zusammen sein wollte. Aber ein ziemlich großer, egoistischer Teil von ihr hielt sie zurück. Allein schon de Gedanke, ihren Gavriel an der Seite einer anderen Frau zu sehen, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Inzwischen hatte sie sich Shirts, Pullover und Kleider mit Löchern und Knöpfen für ihre Flügel schneidern lassen. Es waren schöne Sachen aus hochwertigem, schönen Stoff. Eliza fühlte sich wohl darin, denn sie verdeckten alles, was niemand sehen sollte.

In den letzten Tagen und Wochen hatte sie sehr viel Zeit mit Aedion – und Gavriel natürlich sowieso – verbracht, um etwas von dem aufzuholen, was sie die letzten zwei Jahrzehnte versäumt hatte. Eliza war dankbar für jede Minute, die sie hier auf Erden mit ihren zwei Lieblingsmännern verbringen durfte. Außerdem hatte sie sich fast jeden Tag mit Aelin getroffen, die ihr mit jedem Tag sympathischer wurde. Es fühlte sich sogar schon ziemlich so an, als wären sie Freundinnen.

Darüber, dass Elizas letzte Freundin sie verraten und ausgeliefert hatte, wollte sie bei den Treffen mit Aelin lieber nicht nachdenken.

Gerade saß sie mit Gavriel auf einer Bank im Schlosshof. Er hatte seine linke Hand auf ihrem Rücken liegen und strich leicht darüber. Er musterte ihr Profil, das sie ihm zugewandt hatte. Plötzlich streckte er seinen Daumen aus und fuhr sanft über eine kleine, kaum sichtbare Narbe auf ihrer Wange. Sofort verkroch sie sich in ihr Inneres. „Die ist mir ja noch nie aufgefallen, Eliza. Was ist da passiert?", erkundigte er sich. Sie rückte ein Stück von ihm ab. „Nichts", erwiderte sie nur, abweisend und hart. Gavriel hakte nach: „Nein, wirklich, was ist passiert? Was hat zu dieser Narbe geführt? Es sieht aus, als... Als hätte dich einmal jemand mit einer beringten Hand geschlagen." Abrupt sprang Eliza auf und schrie Gavriel an: „Ich habe gesagt, es war nichts! Außerdem geht dich das nichts an! Und wenn ich sage, es war nichts, dann war es auch nichts!" Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wandte sich von ihm ab und stapfte davon, ohne noch einmal zurückzublicken. Gavriel verblieb alleine auf der Bank. Ratlos. Irritiert. Es war doch nur eine Frage gewesen. Warum also hatte Eliza diese Reaktion gezeigt? Da konnte es nur eine Antwort geben: Mit seiner Vermutung lag er vielleicht gar nicht so falsch.

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„Hm, Eliza, was war das vorhin? Hat dir jemand wehgetan?", hauchte Gavriel in Elizas Ohr und strich ihr in kleinen Kreisen über den Rücken. Eliza seufzte traurig. Nicht schon wieder dieses Thema. Gavriel meinte es ja nur gut, aber... „Nein." Doch. Sie kuschelte sich enger an ihn. Früher hatte sie sich mit dem Rücken an seinen Körper schmiegen können, sodass seine Nasenspitze in Richtung ihres Nackens gezeigt hatte. Das war sehr bequem und entspannend gewesen und – jetzt betrachtet auch ein ziemlich großer Vorteil – sie hätte unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen und Gavriel dabei nicht in die Augen sehen müssen. Doch jetzt konnten sie nicht mehr auf diese Art und Weise kuscheln, denn dafür waren Elizas Flügel im Weg. Ihre Gesichter waren einander zugewandt, deshalb wandte sie den Blick ab, damit er die Lüge darin nicht sehen konnte. Er witterte sie wohl trotzdem. „Du kannst mit mir über alles reden, weißt du, Eliza? Aber wenn du das nicht möchtest, ist das selbstverständlich auch in Ordnung. Ich werde nicht noch einmal nach der Narbe fragen, okay? Wenn du von dir aus darüber reden willst, bin ich für dich da. Immer." „Danke", murmelte sie. Wenig später war sie eingeschlafen.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt