Kapitel 14 - Beerdigung

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Noch nie, wirklich noch nie, hatte er so viel Grauen empfunden wie in dem Moment, als er die steifgefrorene Leiche freilegte, die unter der dicken Schneeschicht zum Vorschein kam. Eliza. Er war zu spät gekommen.

Gavriel konnte kaum atmen. Nein. Nein. Eliza. Das durfte nicht sein. Aber es gab keinen Zweifel. Schluchzend legte er weiter ihren einst wunderschönen, zerschlagenen Körper frei. Sämtliche Gliedmaßen standen in so unnatürlichen, verdrehten Winkeln ab, dass ihm speiübel wurde. Kurz darauf übergab er sich auch würgend in den Schnee. Elizas rechter Flügel lag völlig zerstört neben ihr ausgebreitet, aber ihr linker... Er konnte nur einen kleinen Teil davon sehen, aber dieser zeigte... nach oben. Gavriel beeilte sich damit, ihn freizulegen. Der nächste Schock folgte auf dem Fuße: Der Flügel war in der Mitte von einer Felsspitze durchbohrt, die dicker als sein Oberschenkel war. Gavriel übergab sich erneut.

Danach betrachtete er schluchzend Elizas leblosen Körper. Tot. Eliza war tot. Hätte er ihr doch bloß gesagt, dass er sie liebte. Jetzt würde er nie wieder die Chance dazu haben. Er fiel auf die Knie und robbte zu ihr, durch einen gefrorenen See aus Blut. Er umschlang sie mit den Armen und beugte sich zu ihr hinunter. „Nein", schluchzte er. „NEIN!", wiederholte er schreiend. Seine Tränen tropften auf Elizas wunderschönes, blutverschmiertes Gesicht. Ihre Haut und ihre Lippen waren blau vor Kälte. War sie erfroren oder an ihrem Sturz gestorben? Alles wegen ihm. Nur wegen ihm war sie jetzt das zweite Mal gestorben. Zweimal war sie wegen seinen Fehlern gestorben. „Nein", schluchzte er wieder. Und wieder. Und wieder. Er zog sich etwas zurück und streifte seinen klitschnassen Mantel ab. Gavriel breitete ihn über Eliza aus, als würde das irgendetwas ändern. Doch dafür war es zu spät.

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Gavriel schluchzte lauthals, als Elizas Sarg langsam in die Grube gelassen wurde. Seine Brust war so eng, dass er in manchen Momenten nicht einmal atmen konnte. Jeder hier versammelte konnte sehen, wie er, der tapfere, starke, kalte Krieger seinen Tränen freien Lauf ließ. Es war ihm egal. Eliza war tot, befand sich nun in dieser schrecklichen Holzkiste...
Er hatte ihre Leiche vor zwei Tagen aus den Bergen heruntergetragen und war dann schluchzend vor dem Schloss zusammengebrochen. Nun, zwei Tage später, wollte man ihren Körper zur letzten Ruhe betten. Auf Gavriels Schultern ruhte eine Last, schwerer als Himmel und Erde zusammen. Wegen ihm war Eliza nun zum zweiten Mal gestorben. Und diesmal wusste er, dass es für immer war. Über seiner gesamten Wahrnehmung lag ein grauer Schleier. Die Männer, die den Sarg in die Erde hinabgelassen hatten, traten zurück. Gavriel starrte auf die Rose in seiner Hand.

Aedion stand auf der anderen Seite des Grabes und blickte betrübt nach unten. Er würde nicht weinen, das wusste Gavriel. Aedion vermochte es, seine Gefühle nach außen hin - zumindest einigermaßen - zu verbergen. Doch er war genauso traurig wie sein Vater. Aedion hatte sich nicht neben ihn stellen wollen, hatte sich stattdessen so weit von ihm entfernt wie nur irgend möglich. Er machte sich auch nicht mehr länger die Mühe, den Hass auf Gavriel zu verbergen, aus seinen Augen zu verbannen. Sollte er ruhig sehen, was er angerichtet hatte. Wenn Gavriel nicht wäre, würde seine Mutter jetzt noch leben...
Gavriel trat vor und warf die rote Rose in das Grab. Die Trauer war überwältigend. Gavriel wollte sich am liebsten zu Eliza in den Sarg legen und sie noch einmal umarmen, wenigstens ein letztes Mal.

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Gavriel erwachte aus seiner schaurigen Vision. Er atmete heftig und schüttelte den Kopf. Bald würde diese Szene Wirklichkeit werden... Ein lauter Schluchzer entfuhr ihm.

Doch dann, ganz plötzlich, fiel Gavriel ein Detail auf, das ihm vorher entgangen war. Er rieb sich die rotgeränderten Augen, um sich zu vergewissern, dass er nicht halluzinierte. Doch die Atemwölkchen vor Elizas Mund blieben. Atemwölkchen! Winzige, hauchzarte Atemwölkchen stiegen in die kalte Nachtluft auf. In diesem Moment hörte es auf, zu regnen und er konnte Elizas Atem nun besser erkennen. Beim Wyrd! Eliza atmete! Gavriels Herzschlag beschleunigte sich. Eliza lebte. Noch. Wenn er wollte, dass das so blieb, musste er handeln, und zwar schleunigst. Sein Herzschlag donnerte ihm in den Ohren, erschütterte seine Eingeweide.

The Lion and his Angel - Throne of Glass FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt