Kapitel 9 - Hallo unbekannte Nachbarin

1.2K 145 3
                                    

Hallo unbekannte Nachbarin,

tatsächlich war ich mir nicht bewusst, dass ich mit meinen Gesang die ganze Nachbarschaft foltere. Ich war davon ausgegangen, dass bei dieser Miete die Schalldämmung gut genug wäre, um meine Nachbarn von der Geräuschbelästigung zu bewahren. Vermutlich liegt es jedoch auch gar nicht an der Dämmung, sondern an meiner Angewohnheit mit angekippten Fenster zu duschen. Ich muss gestehen, dass mir dein Brief ein wenig die Schamesröte ins Gesicht getrieben hat. Doch dann habe ich gelesen, dass es dich glücklich macht. Zwar kann ich nicht ganz nachvollziehen, wie mein grausames Gequake solche Gefühle in dir weckt, doch wenn es tatsächlich so ist, dann singe ich auch sehr gern weiter unter der Dusche und gebe dir ein kleines Privatkonzert. Songwünsche können gerne und jederzeit hinter dem Zitronenbaum abgelegt werden.

Du schreibst in deinem Brief zudem, dass es dir besonders an schlechten Tagen, ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ich hoffe sehr, dass die schlechten Tage nur eine Ausnahme sind!

Falls du Lust hast, eine kleine Brieffreundschaft zu beginnen, kannst du gerne ein wenig etwas von dir oder deinem Leben erzählen. Das ist doch mal eine andere Art und Weise seine Nachbarn kennenzulernen.

Mein Herz machte ein Sprung. Das war noch so viel mehr, als ich mir erhofft hatte. Er schien ein wirklich netter Kerl zu sein, der offenbar Humor und ein Herz hatte.

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Auf einmal war all die Wut von eben verschwunden und viele kleine Herzchen begannen sich in meinem Bauch zu bilden. Ich kannte dieses Gefühl, auch wenn ich es schon viel zu lange nicht mehr erlebt hatte.

Ich war verliebt.

Verliebt in einen Unbekannten, über den ich nahezu nichts wusste. Doch in meinem Kopf war er schon so viel mehr. Denn dort war er in meinem Alter, hatte ein offenes sympathisches Lachen und sah mich verliebt an. Wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich mir schon vorgestellt wie wir am Altar stehen könnten oder Weihnachten vor einem Kamin mit unseren Kindern feierten.

Ich war so doof.

Mein Tagträume nahmen Ausmaße an, die ein Psychiater vermutlich schon einer Diagnose zuordnen würden. Doch diese Tagträume ließen mich weiter hoffen, dass am Ende alles gut werden würde. Mir war aber auch bewusst, dass jeder Mann schreiend davonlaufen würde, wenn er erfahren würde, was wir in meinen Gedanken schon alles erlebt hatten.

Doch vielleicht wurde es dieses Mal ja real. Vielleicht war er der eine. In meinem Innersten war eine Zuversicht, die ich in dieser Form noch nie zuvor gespürt hatte.

Ich würde definitiv meine Chance nutzen und ihm antworten. 

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt