Kapitel 30 - Drei Schritte zu weit

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Er blieb den ganzen Abend und die ganze Nacht. Es war vermutlich die schönste Nacht in meinem gesamten Leben. Schon seit Jahren hatte ich nicht mehr so viel an einem Stück gesprochen.

Ich hatte das Gefühl, dass ich mit ihm ganz offen reden konnte. Ich sah nicht mehr den Chef in ihm, sondern einen Seelenverwandten, der genau zu verstehen schien, was ich fühlte.

Doch ich musste mich auch auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Nur weil wir uns geküsst hatten, bedeutete das noch lange nicht, dass ich mit ihm mein großes Glück finden würde. Ich sollte nicht wieder den Fehler machen und in meinem Kopf schon fünf Schritte weiter sein. Doch es war schwer sich nicht wieder in Traumwelten zu verlieren, denn er war zu perfekt.

Wir hatten uns darauf geeinigt, zunächst niemanden davon zu erzählen. Ich wusste nicht einmal, was das zwischen uns war.

Constance stand an meinem Schreibtisch, als Erik den Raum betrat. Den gestrigen Tag war ich noch krank geschrieben gewesen, doch heute hatte ich den Dienst wieder angetreten. Auch weil ich Erik so oft wie möglich sehen wollte.

Er begrüßte uns mit einem neutralen "Guten Morgen".

Ich hatte jedoch das Gefühl, dass seine Stimme ein wenig weicher klang als sonst. Er nickte uns beiden kurz zu und verschwand dann in seinem Büro.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Constance mich mit großen Augen an und stupste mir den Ellenbogen in die Rippen.

"AU", beschwerte ich mich. "Dir ist schon bewusst, dass ich noch immer Prellung von diesem Übergriff habe, oder?"

"Du hast mit ihm geschlafen. Das sehe ich dir an!"
Nun war ich es, die ihr einen leichten Schlag versetzte.

"Schrei doch noch lauter!", fuhr ich sie an. "Und nein, wir haben nicht miteinander geschlafen."

Das hatten wir tatsächlich nicht. Wir hatten eng umschlungen auf meinem Sofa gelegen, doch weiter waren wir nicht gegangen. Ich konnte nicht einmal genau sagen warum, denn ich wäre bereit gewesen. Ich vermutete, dass er Angst hatte mir weh zu tun. Schließlich war mein Körper übersät von Blutergüssen.

"Aber irgendetwas ist zwischen euch passiert! Das kann ich sehen!"

"Wir duzen uns jetzt. Das ist alles."

Sofort schüttelte sie den Kopf.

"Verkauf mich nicht für dumm! Erzähl schon! Was läuft da zwischen euch?"

"Nichts", sagte ich unterkühlt und widmete mich meinem PC.

Constance verdrehte daraufhin die Augen.

"Ich lass dich doch auch immer an meinem Liebesleben teilhaben."

"Es ist nicht so, dass ich je danach gefragt habe", brummte ich.

Nun funkelte sie mich böse an.

"Du trägst dein Näschen ganz schön weit oben, seitdem du mit dem Chef ins Bett gehst."

Entsetzt starrte ich sie an.

"Wie bitte? Geht's noch?"

Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. War es Eifersucht? Neid? Sie warf mir einen letzten abwertenden Blick zu, ehe sie schwungvoll den Raum verließ.

Die Mittagspause verbrachte mit Wilma, die stolz ihr kleines Bäuchlein präsentierte. Sie sah so glücklich aus, seitdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte.

Sie drückte mich fest an sich.
"Ich freu mich so für dich", flüsterte sie in mein Ohr. "Ich habe ein richtig gutes Gefühl, was euch beide angeht."

Diese Worte waren wie Musik in meinen Ohren.

"Er ist so perfekt! Wirklich perfekt! Es heißt immer, den perfekten Partner gibt es nicht, aber vielleicht ja doch."

Wilma lachte ein wenig nervös.

"Lotta, so perfekt wie er dir momentan auch erscheinen mag: Auch er hat sicherlich seine Schwächen. Stürze dich jetzt bitte nicht in zu hohe Erwartungen. Genieß es einfach mit ihm und schau, wie es sich entwickelt."

"Ich weiß", sagte ich, denn ich wusste genau, dass ich die Neigung dazu hatte, mich viel zu schnell in meinen Traumvorstellungen zu verlieren, um dann von der Realität enttäuscht zu werden.

Wilma liegt ihren Kopf schief und sah mich skeptisch an.

"Ich sehe dir doch an, dass du am liebsten jetzt schon mit der Familienplanung anfangen willst."

"Nein", widersprach ich. "Ganz so überstürzt bin ich dann doch nicht, aber man kann sich ja zumindest ausmalen, wie es so wäre."

"Du weißt noch nicht einmal, ob er gut im Bett ist", gab sie zu Bedenken und grinste schief.

Ich ging darauf nicht weiter ein. Wer so gut küssen konnte, konnte kein absoluter Versager im Bett sein.

Die Vorstellung mit ihm eine Familie zu haben, war wunderschön. Ich stellte ihn mir als sehr fürsorglichen Vater vor. Aber auch einer der für jeden Spaß zu haben war.

Ich spürte, wie ein Finger gegen meinen Oberarm schnippste.

"Hey", sagte Wilma lachend. "Du hast dich ja schon wieder in deiner Tagträumerei verloren. Gib ihn ein bisschen Zeit und setz ihn nicht unter Druck."

Ich nickte.

"Ja, ich weiß. Ich bin ja nicht doof."

"Weißt du denn, wie er allgemein zu Kindern steht?"

Wilma stellte diese Frage, weil sie genau wusste, dass allein mein bisher unerfüllter Kinderwunsch mich bei meiner Partnerwahl so unter Druck setzte.

Meine Mundwinkel zogen sich nach oben, denn ich erinnerte mich an eine Nachricht von ihm, in denen er geschrieben hatte, dass Kinder etwas "Großartiges" sind.

"Er liebt Kinder", ließ ich sie wissen. "Er hat auch zwei kleine Nichten. Zwillinge."

"Zwillinge? Du weißt schon, dass so etwas genetisch bedingt ist. Vielleicht bekommst du ja auch Zwillinge."

Ich zog die Augenbrauen hoch und sah sie an.
"Du bist ja noch schlimmer, als ich", sagte ich lachend. "Du planst ja auch schon meine Kinder mit ihm. Sogar zwei davon."

Schließlich stimmte sie in mein Lachen ein und es freute mich, sie so unbeschwert zu sehen. Ihre Probleme schwanger zu werden, hatten sie mit jedem Jahr immer mehr in ein schwarzes Loch gezogen, doch nun - mit dem Kind unter ihrem Herzen - blühte sie vollkommen auf. Auf einmal war dieses Szenario für mich selbst wieder realistisch, doch mir war bewusst, dass ich schon wieder drei Schritte zu weit war.

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt