Kapitel 14 - Erik Wagens

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Ich hatte gewusst, dass dort ein Brief liegen würde. Schließlich hatte ich ihn heute Morgen schon einmal in meinen Händen gehalten.

Seltsamerweise freute ich mich trotzdem ihn dort liegen zu sehen. Behutsam hob ich ihn auf und klopfte die Erde vom Papier.

Meine Augen flogen über seine Zeilen hinweg.

Hallo Unbekannte!

Es freut mich sehr, dass du auch Interesse daran hast, dass wir uns persönlich kennenlernen. Um ehrlich zu sein, kann ich es kaum erwarten.

Ich kenne ein nettes Café im Hauptmanngässchen. Die Kuchen dort könnten glatt von meiner Oma sein. Wie wäre es, wenn wir uns am Samstag um 15 Uhr dort treffen?

Ich würde mich wirklich sehr freuen!

Viele Grüße

Unmöglich konnte ich mich jetzt noch auf dieses Treffen einlassen. Nie wieder wäre ich in der Lage mit Herr Wagens ein normales Arbeitsverhältnis zu haben.

Alleine die Vorstellung, wie er herausfand, dass ich die unbekannte Nachbarin bin, trieb mir die Schamesröte ins Gesicht.

Was sollte ich nur tun?

Er hatte sich aufgrund meiner Briefe vielleicht auch Hoffnungen gemacht. Zumindest hörten sich seine Worte so an. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich doch kein Interesse an einem Treffen hatte?

Ich entschied mich den Brief erst einmal beiseite zu legen und mit einer Beantwortung abzuwarten.

Stattdessen setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begann seinen Namen zu googlen. Ich wollte wissen, wer er war. Denn auch wenn ich mit ihm eng zusammenarbeitete, wusste ich nichts über seine Vergangenheit. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er jemals etwas Privates über sich preisgegeben hatte.

Sofort ploppten unzählige Suchergebnisse auf. Neugierig überflog ich erst einmal die Bilder. Ganz offensichtlich war er früher bei der Armee gewesen. Ich öffnete ein Foto, das ihn in Uniform zeigte. Auf dem Bild sah er zum einen deutlich jünger, zum anderen aber auch deutlich breiter aus. Er schien ein wahres Muskelpaket gewesen zu sein, das jeden Tag im Fitnessstudio verbrachte und sich nur von Proteinshakes und Hühnchen ernährte. Das Foto zeigte die Verleihung des Ehrenkreuzes für Tapferkeit. Er erhielt sie für seinen Einsatz in einem Gefecht in Afghanistan. 3 Soldaten war damals dabei ums Leben gekommen. Er hatte überlebt.

Ich fragte mich, was das für ein Trauma bei ihm ausgelöst haben musste. War er deshalb zur Polizei gewechselt? Ich wusste, dass er nach dem Militär zur GSG 9 gewechselt war - die Eliteeinheit der Bundespolizei, doch darüber fand ich keinen Eintrag im Internet. Verständlich! Denn die die Mitglieder der GSG 9 vermummen sich nicht ohne Grund.

Ich sah wieder auf das Foto, das ihn in der Militäruniform zeigte. Wenn man genau hinsah, erkannte man zwar seine Gesichtszüge, doch hätte ich vorher nicht gewusst, dass er es war, hätte ich ihn niemals erkannt. Er sah aus, wie ein komplett anderer Mensch.

Zwar war Erik Wagens immer noch weit weg von einer schmächtigen Statur, doch so muskelbepackt wie auf dem Foto war er bei weitem nicht mehr.

Ich musste jedoch gestehen, dass mir die Figur des aktuellen Erik Wagens deutlich besser gefiel. Früher hatte er wie eine Kampfmaschine ausgesehen, doch nun war er ein Mann mit Klasse. Er schien die Armee offensichtlich hinter sich gelassen zu haben. Es war sicherlich kein Zufall, dass er nun einen Schreibtischjob hatte. Wer einmal im Leben Kollegen im Krieg hat sterben sehen, hatte vermutlich ein Leben lang Narben auf der Seele. Vielleicht kam daher auch seine innere Einsamkeit.

Die Tatsache, dass er eventuell zerbrechlicher war, als ich ihn einschätzte, weckte umso mehr in mir das Bedürfnis, mich mit ihm treffen zu wollen. Ich wollte erfahren, wie es zu diesem Wandel gekommen war. Doch auf der anderen Seite konnte ich mir nicht vorstellen, mich jemals privat mit ihm zu treffen. Er war in seiner Art sehr professionell und wahrte stets eine gewisse Distanziertheit. Mal abgesehen von dem Ausrutscher mit Constance. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals locker mit ihm auf privater Ebene sprechen konnte. Im Gegenteil: Wenn er herausfinden würde, wer die unbekannte Nachbarin war, würde er vermutlich noch mehr Abstand suchen.

Ich klappte meinen Laptop zu. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn aus dieser Brieffreundschaft wahre Liebe entstanden wäre. Manche Dinge passierten eben tatsächlich nur in Filmen und Büchern.

Als ich abends im Bett lag, ging mir sein Gesicht nicht mehr aus den Kopf. Ich wälzte mich hin und her, doch es half nichts: Sobald ich die Augen schloss, sah ich Erik Wagens vor mir. Meine Tagträume der letzten Wochen waren immer mit einem gesichtslosen Mann gewesen, doch nun hatte ich ein sehr spezifisches Bild von meinem Mann der Träume. Leider würde er jedoch genau das blieben. Ein Mann, der nur in meinen Träumen an meiner Seite stand. 

Letters from a StrangerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt